Ein Stiefvater aus Reinfeld steht wegen jahrelangen sexuellen Missbrauchs vor Gericht. Warum ermittelte die Kripo so spät?

Reinfeld/Lübeck. "Ich dachte, es sei normal - ich war schließlich noch klein." Es sind die Worte eines Mädchens, das jahrelang sexuelle Übergriffe über sich ergehen lassen musste. Die Worte einer heute 17-Jährigen, die seit ihrem zehnten Lebensjahr immer wieder vom Stiefvater misshandelt wurde. Seit gestern muss sich der 43 Jahre alte Reinfelder Christian H. (alle Namen geändert) für diese Verbrechen vor dem Lübecker Landgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann 44 Taten im Zeitraum zwischen den Jahren 2003 und 2006 vor.

"Es passierte immer, wenn meine Mutter nicht zu Hause war, wenn sie abends als Putzfrau gearbeitet hat", erinnert sich Nina J.: "Wenn ich aus der Dusche kam, stand er im Badezimmer. Er begann dann, meine Brust zu streicheln und berührte mich im Intimbereich." Später habe sich der Berufskraftfahrer in das Kinderzimmer geschlichen. Sich zu dem Mädchen ins Bett gelegt, Nina gestreichelt und geküsst. Überall. Übergriffe im Zimmer des Stiefvaters, in dem er seine Modelleisenbahn aufgebaut hatte, folgten. "Ich hab' mich nicht getraut, mich zu wehren", sagt die 17-Jährige mit den langen blonden Haaren und den rosafarbenen Turnschuhen. Nach einem Jahr habe sich die damals Zwölfjährige einer Klassenkammeradin anvertraut. Die Mutter der Freundin alarmierte das Reinfelder Jugendamt. "Ich habe der Frau alles erzählt", sagt J. Die Sachbearbeiterin vereinbarte weitere Gespräche mit dem Mädchen, die Polizei wurde nicht alarmiert. "Ich bin aber nicht mehr zu den Terminen hingegangen, weil meine Mutter mir so leid tat", sagt sie vor Gericht.

Die Übergriffe des Stiefvaters ließ sie über sich ergehen. Erst Ende 2005 brach sie erneut ihr Schweigen. "Es war mitten im Unterricht", erinnert sich ihre damalige Mathematiklehrerin: "Plötzlich lief Nina weinend aus dem Klassenraum. Ich fand sie kurz darauf zusammengekauert im Flur." Die Lehrerin berichtet, die Realschülerin sei zuvor aufgefallen, weil sich ihre Leistungen verschlechtert hatten, sie ständig über Bauchschmerzen klagte. Erneut wurde das Jugendamt alarmiert. Es folgten Gespräche mit den Eltern. Die Familie einigte sich darauf, dass Nina J. für zwei Wochen zu einer Freundin zog. "Danach bin ich wieder zu Hause eingezogen. Mein Stiefvater nahm mir mein Handy weg und sagte, ich bekäme es erst zurück, wenn ich mit ihm schlafen würde." Dazu kam es aber nicht. Anfang 2006 wurde das Mädchen mit einer Freundin beim Ladendiebstahl erwischt. Sie erzählte den Polizisten von ihrem Schicksal. Die Beamten reagieren sofort, das Mädchen kam in ein Kinderheim. Doch dann blieb der Fall bei der Oldesloer Kripo lange unbearbeitet. Erst 2009 übernahm eine Beamtin die Akte und ermittelte. Warum so lange nichts passierte, konnte die Kriminalkommissarin auf Anfrage des Gerichtes nicht beantworten.

Vor Gericht gab Christian H. die sexuellen Handlungen an seiner Stieftochter zu. Er sagte aber, dass sie ihn verführt habe. "Sie war sehr frühreif. Plötzlich stand sie vor mir, hat ihr T-Shirt hochgezogen und mich aufgefordert, ihre Brüste anzufassen. Das passierte immer wieder. Und irgendwann war es mir zu doof, da habe ich sie berührt." Der Richterin erschien diese Schilderung unglaubwürdig: "Das ist eine sehr ungewöhnliche Erklärung." Nach einem kurzem Gespräch mit dem Verteidiger des Angeklagten außerhalb des Gerichtssaals widerrief der Mann seine Aussage und gab zu, das Mädchen bedrängt zu haben. "Aber ich habe sie jedes mal gefragt, ob ich sie anfassen darf", sagt H: "Sie hat nie geantwortet."

Die Mutter des Mädchens, die seit 13 Jahren mit H. verheiratet ist, habe nichts von den Übergriffen mitbekommen. Auch als sie vom Jugendamt von den Missbrauchsvorwürfen erfuhr, schwieg sie. "Ich habe es verdrängt", sagt die hagere 45 Jahre alte Frau mit den kurzen hellgrauen Haaren.

Im Gerichtssaal und auf den Fluren schauen Mutter und Tochter einander nicht an. Nina J. ist inzwischen aus dem Kinderheim in Bad Oldesloe ausgezogen. "Ich wusste, dass ich dort in Sicherheit bin. Doch nachts hatte ich immer Angst, dass er durch die Tür kommt und sich in mein Bett legt." In ihr Elternhaus ist Nina J. nie mehr zurückgekehrt. Sie lebt in Neumünster, weit weg von ihrem Stiefvater. Von dort hat sie ihrer Mutter einen Brief geschrieben, suchte das Gespräch. Doch dieses Schreiben blieb bis heute unbeantwortet. Nina J.: "Ich habe Angst um meine Halbschwester, die ist jetzt in dem Alter, in dem es auch bei mir passiert war."