Analyse: Noch in der Wahlnacht brachte CSU-Chef Stoiber ein neues Modell ins Gespräch. Wenn es hart auf hart käme, würde die Union eher Angela Merkel über die Klinge springen lassen als auf die Macht zu verzichten.

Hamburg. Spät in der Nacht in München sagte Edmund Stoiber den entscheidenden Satz: "Man muß auch das Undenkbare denken." Und am Morgen danach legte der Merkel-Vertraute Ronald Pofalla nach: Man sei in der Wirtschaftspolitik den Grünen näher als der SPD. In der CDU/CSU steht einen Tag nach dem Wahldesaster die Ampel für Schwarz-Gelb-Grün auf grün.

Deutschland steuert möglicherweise auf die aufregendste denkbare Koalition zu, die strategisch die Lage für alle Parteien völlig verändern würde. Innerhalb weniger Stunden sind jedenfalls die Kurse für eine große Koalition deutlich gefallen.

Befördert hat dies auch der bizarre Auftritt von Gerhard Schröder in der "Berliner Runde", der unter völligem Realitätsverlust das Kanzleramt erneut für sich beanspruchte und eine große Koalition unter Führung von Angela Merkel rüde ausschloß. Damit war für die schwer angeschlagene Angela Merkel und ihre Vertrauten klar, daß ernsthafte Koalitionsverhandlungen mit der SPD für Merkel politisch lebensgefährlich würden. Die SPD hätte es in der Hand, wenn sie schon Schröder nicht durchsetzten könnte, als Bedingung für eine große Koalition Merkel zu verhindern und damit ihre Karriere zu beenden.

Ein Vorhaben, das auch in der CDU Freunde hat. Wenn es hart auf hart käme, würde die CDU/CSU eher die Wahlverliererin Merkel über die Klinge springen lassen, als auf die Macht zu verzichten.

Kein Wunder, daß Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff, der in der Schaltkonferenz des CDU-Präsidiums am Sonntag noch gegen eine große Koalition votierte, über Nacht seine Meinung änderte. Zu verlockend ist für ihn, anstelle von Merkel Kanzler einer großen Koalition zu werden. Auffallend war, wie weiträumig er am Wahlabend das Adenauer-Haus in Berlin umfuhr und erst zur Christiansen-Sendung auftauchte, um ja nicht mit der Verliererin Angela Merkel gefilmt zu werden. Wulff ist eindeutig der netteste Illoyale, den die Partei hat.

Und genauso bezeichnend ist, warum Hessens Ministerpräsident Roland Koch seine Meinung änderte und plötzlich einer großen Koalition nicht mehr viel abgewinnen kann: Ihm ist eine geschwächte Angela Merkel als schwarz-gelb-grüne Kanzlerin lieber als ein gestärkter Christian Wulff, der ihm als Kanzler einer großen Koalition die Karriere auf Jahre verbauen könnte.

Also freie Fahrt für die "schwarze Ampel", für Schwarz-Gelb-Grün? Leicht würde es nicht, aber ein paar gewichtige Argumente sprechen dafür:

  • Die Grünen würden als kleinste Oppositionspartei im Bundestag in die Bedeutungslosigkeit fallen. Sie würden auch deshalb in der deutschen Politik keine Rolle mehr spielen, weil sie keiner Landesregierung mehr angehören. Eine Koalition mit der CDU/CSU dagegen ließe sie als umwelt- und verbraucherpolitisches Korrektiv beim Wähler punkten und schaffte ihnen neue Koalitionsmöglichkeiten auf Länderebene. Die CDU müßte den Grünen allerdings eine entscheidende Morgengabe bieten: Es bleibt beim Atomausstieg, die Laufzeiten der Kernkraftwerke werden nicht verlängert. Mit diesem Erfolg könnte die grüne Führung vor ihren Parteitag treten. In der Wirtschafts- und Steuerpolitik sind sich Grüne und CDU/CSU ohnehin näher als SPD und CDU/CSU. Dafür steht zum Beispiel die angesehene grüne Finanzexpertin Christiane Scheel.
  • Für die CDU/CSU und Angela Merkel wäre eine Koalition mit den Grünen und der FDP ein strategisches Meisterstück. Sie würde ihre Koalitionsoptionen verdoppeln, ganz neue Machtperspektiven in den Bundesländern gewinnen und die SPD auf Jahre in die Opposition schicken. Richtig haken würde es mit den Grünen nur in der Landwirtschaftspolitik, aber da müßte die CSU über ihren Bauernschatten springen. Bio-Landwirtschaft ist dann vielleicht doch nicht mehr so schlecht. Und: Eine schwarz-grün-gelbe Koalition hätte im Bundesrat eine satte Mehrheit, gegenüber nur einer Stimme Mehrheit für eine große Koalition.
  • Noch ist die Rechnung ohne die FDP gemacht. Sie tut sich mit Schwarz-Gelb-Grün am schwersten. Für sie sind die Grünen die Wirtschafts- und Wachstumsbremse Nr. 1. Ihnen ist jeder Gedanke an eine Koalition mit den Grünen ein Greuel. Allerdings gilt für sie, daß die grüne Wirtschafts-/Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik und die innenpolitischen Vorstellungen gar nicht so weit entfernt sind. Und es gäbe eine heroische Geste, mit der die FDP für eine schwarz-gelb-grüne Koalition gewonnen werden könnte: Joschka Fischer verzichtet auf das Außenministerium.

Sicher, das sind Planspiele und auch Spekulationen, aber aus heutiger Sicht ist eine "schwarze Ampel" wahrscheinlicher als eine große Koalition. Den Schlüssel dafür hat die FDP. Die Grünen sind beweglich. Das bewies schon Fischer in der Wahlnacht, der diese Gedankenspiele nicht ausschließen wollte. Und für Schröder und die SPD rächen sich jetzt die frühe Distanzierung von den Grünen im Wahlkampf und ihre Überheblichkeit gegenüber dem kleinen Koalitionspartner.

Auch Angela Merkel könnte in einer Koalition mit Grünen und Liberalen ihre zentrale Schwäche überwinden: Sie muß lernen, starke Menschen in ihrer Umgebung zu ertragen und für sich zu gewinnen, statt nur auf Loyalität und Abhängigkeit als erstes und häufig einziges Kriterium für ihre Personalauswahl zu setzen. Wäre sie im Wahlkampf über ihren Schatten gesprungen und hätte statt Paul Kirchhof ihren Rivalen Friedrich Merz ins Kompetenzteam geholt, dann wäre ihr ein Wahldesaster in diesem Ausmaß wahrscheinlich erspart geblieben.

Wenn beides - die "schwarze Ampel" und die große Koalition - scheitert, bliebe nur eine erneute Neuwahl, ein Vorhaben, das sicher viele Wähler empören und in die Wahlenthaltung treiben würde. Für alle Parteien wäre das ein unkalkulierbares Risiko. Der 9,8-Prozent-Erfolg der FDP ist kein Gesetz, und die Linkspartei könnte weiter erstarken. Außerdem hieße die Kanzlerkandidatin der CDU/CSU bei einer erneuten Neuwahl sicher nicht mehr Angela Merkel.

Dann doch lieber den schwarz-gelb-grünen Spatz in der Hand als die schwarz-gelbe Taube auf dem Dach.