Wenn es doch so einfach wäre! “Das Motiv hängt mit dem Internet zusammen“.

Wenn es doch so einfach wäre! "Das Motiv hängt mit dem Internet zusammen", sagte Polizeisprecher Klaus Hinderer über die Beweggründe des Amokschützen von Winnenden.

Das Internet - ein Tummelbecken wirrer Geister? Tatsächlich findet sich nur wenige Stunden nach dem seelenlosen Wutausbruch des 17-Jährigen in einem Chat eine angebliche Ankündigung von Tim K.: "Ich habe Waffen hier, und ich werde morgen früh an meine frühere Schule gehen und mal so richtig gepflegt grillen. Ihr werdet morgen von mir hören, haltet die Ohren offen." Die Sätze sind erschreckend.

Dabei ist es im Nachhinein betrachtet beinahe Nebensache, ob dieser Eintrag ins Netz von Tim K. stammt oder einem Wichtigtuer. Was treibt einen Menschen dazu, solche Aussagen weltweit zugänglich zu veröffentlichen, dem weltweiten Internetmüll eine weitere merkwürdige Botschaft hinzuzufügen? Das Fatale: Keine Suchmaschine kann aufspüren, ob sich hinter solchen Formulierungen nur Geschwätz verbirgt oder ob dahinter tatsächlich der gefährliche Wahn eines Halbwüchsigen lauert.

Auch die Erkenntnis der Ermittler, dass auf dem Computer des ehemaligen Realschülers das Killerspiel "Counter-Strike" installiert war, bringt uns nicht weiter. Von diesem Spiel samt Unterarten sind weltweit zehn Millionen Stück in Umlauf. Hat das Ballerspiel - und es ist nur eins von vielen - wirklich eine Welle von Gewalt ausgelöst?

Wenn Zahlen nicht lügen, hat Goethes Selbstmord-Klassiker "Die Leiden des jungen Werther" mehr Blutzoll gefordert: Der Briefroman des damals 24 Jahre alten Autors löste 1774 europaweit eine Selbstmordwelle aus. Vielerorts verdoppelte sich die Zahl der Selbsttötungen. Verirrte junge Geister eiferten Werther nach. Die Reflexe der Obrigkeit vor 235 Jahren ähneln aktuellem Verlangen nach Verkaufsverboten für Spiele oder nach Internetzensur. Damals untersagte die Churfürstlich Sächsische Zensurbehörde bei zehn Talern Strafe den Verkauf des "Werther"; 1776 fiel das Buch der österreichischen Zensur zum Opfer; im Königreich Dänemark wurde es verboten.

Was kam, war eine zweite Auflage - mit einer Warnung.

Warnungen stehen auch heute auf Computerspielen, in Form von Altersempfehlungen. Und für den PC gibt's Kinder- und Jugendschutzprogramme. Für all diese guten Absichten gilt: Sie bringen nichts, wenn sie auf einen wirklich verwirrten Geist treffen. Den stimuliert der Zeitgeist zusätzlich, aber Computer und Internet, Taktgeber unseres Zeitgeists, sind nicht die Ursache, nicht das Motiv. Der Dortmunder Soziologe Friedrich-Wilhelm Stallberg sieht in der Beschäftigung mit Gewaltspielen "eine gewisse Station in der Gewaltkarriere junger Amokläufer". Aber nachahmen könne nur, "wer die vielen und komplexen inneren Bedingungen für eine so extrem aggressive Handlung schon erfüllt".

Sind wir der Gewalt also hilflos ausgeliefert? Können wir gar nichts tun? Die sich selbst hassenden Täter zielen auch auf unsere Gesellschaft. Der Tatort Schule steht symbolhaft dafür. Die Täter wollen öffentliche Bedeutung erlangen und ihr krankhaftes Selbst stärken. "Diese soziale Dimension zeigt sich stärker als jemals zuvor", sagt der Dortmunder Soziologe. Im Internet, aber nicht nur dort. Meist fallen Gefährdete lange vorher auf, weil sie sich abkapseln, sich unverstanden fühlen oder durch auffälliges Verhalten eine Art Hilferuf senden. Hier könnte ein Hebel ansetzen, mit viel Glück beim nächsten Mal das Schlimmste zu verhindern. Gelingen kann das nur mit viel Gespür und Feingefühl.

Der Blick in das Gesicht eines einsamen Menschen verrät mehr als alles andere. Auf Außenseiter zugehen, sie zurückholen in die Gemeinschaft, diese Aufgabe geht alle an, nicht nur Gleichaltrige, Eltern, Erzieher und Lehrer.

Die ganze Gesellschaft ist das Problem - und die Lösung. Nach dem jüngsten Amoklauf kann niemand mehr sagen, ihn ginge das nichts an.