Der 17 Jahre alte Amokläufer kannte den Code des väterlichen Waffentresors. Er klaute die Beretta aus dem Schlafzimmer der Eltern. Er war in psychiatrischer Behandlung. Niemand hat die Gefahr erkannt.

Es sind wohl zwei Geschichten, die erzählt werden müssen nach diesem Amoklauf des 17 Jahre alten Tim K., der ein ganzes Land erschüttert und in einen merkwürdig schwankenden Zustand zwischen Hysterie und Hilflosigkeit versetzt hat. Und man muss diese beiden Geschichten schon sehr genau auseinanderhalten, um nicht eine dieser extremen Positionen einzunehmen.

In der ersten Geschichte spielen Ermittler die Hauptrolle, und deshalb beruht sie auf Fakten, Berichten von Augenzeugen, hinterlassenen (Blut-)Spuren und sogar einem Videofilm, der den Täter in seinen letzten Minuten auf einem tristen Hinterhof eines Gewerbegebietes in Wendlingen zeigt. Ein Film, der keinen Abspann hat wie im Kino, wenn man sich zur wohligen Musik entspannt aus seinem Sitz schält, weil nämlich in diesem Fall der Kameramann per Handy - zitternd und zufällig - das wirkliche Leben festgehalten hat. In der zweiten Geschichte spielen Psychologen und angebliche Freunde von Tim K. die Hauptrolle. Weder Vater Jörg noch Mutter Ute tauchen bisher auf. Sie hat keinen eindeutigen Anfang, mehr Fragen als Antworten und ist deshalb im Wortsinn mit Vorsicht zu genießen.

Die erste Geschichte beginnt in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Es ist 2.45 Uhr, als ein Jugendlicher in Bayern im Internet-Chat "Krautchan.net" folgende Sätze liest: "Scheiße, Bernd, es reicht mir, ich habe dieses Lotterleben satt. Immer dasselbe, alle lachen mich aus, niemand erkennt mein Potenzial. Ich meine es ernst, Bernd, ich habe Waffen hier, und ich werde morgen früh an meine frühere Schule gehen und mal so richtig gepflegt grillen. Vielleicht komme ich ja auch davon, haltet die Ohren offen, Bernd. Ihr werdet morgen von mir hören. Merkt euch nur den Namen des Orts: Winnenden. Und jetzt keine Meldung an die Polizei, keine Angst, ich trolle nur." Fakt ist, diesen Eintrag hat es gegeben. Nicht klar ist jedoch, ob er wirklich von Tim K. stammt - oder ob die Polizei einer Fälschung aufgesessen ist.

Etwa sechs Stunden später beginnt Tim K. mit den letzten Vorbereitungen des Blutbades. Er stiehlt die Beretta seines Vaters, die dieser im Schlafzimmer liegen gelassen hat. Eine Ordnungswidrigkeit oder gar fahrlässige Tötung? Auf jeden Fall prüft die Polizei jetzt, ob es einen hinreichenden Anfangsverdacht gibt, um auch Ermittlungen gegen den Vater einzuleiten. Der Vater. Chef eines mittelständischen Unternehmens mit 150 Mitarbeitern und Mitglied im örtlichen Schützenverein, der legal 15 Waffen bei sich zu Hause im Tresor lagerte. Zehn Langwaffen, fünf Revolver. Dazu 4000 Schuss Munition. Verschlossen hinter Stahl zwar, aber kein Problem für Tim, weil er, so die Ermittler, "den achtstelligen Zahlencode" kannte.

Tim zieht sich einen schwarzen Kampfanzug mit Schutzweste an, packt die schwarz-silberne Schnellfeuerpistole, Kaliber 9 mm ein und laut Polizei "mehr als 200 Schuss Munition". Um 9.30 Uhr stürmt er in die 9c der Albertville-Realschule und ballert sofort los. Er tötet in zwei Klassenräumen insgesamt neun Schüler und eine Lehrerin. Er stürmt ins Treppenhaus und erschießt im Flur zwei weitere Lehrerinnen. Ob sie sich dem Amokläufer in den Weg gestellt haben, um Schlimmeres zu verhindern, oder ob er sie zufällig dort angetroffen hat, kann die Polizei noch nicht sagen. Auf jeden Fall hat er zu diesem Zeitpunkt bereits "mehr als 50 von insgesamt 60 Schüssen in der Schule" abge-geben.

Knapp zehn Minuten später sind die ersten Beamten in der Schule, und das rettet wahrscheinlich sehr vielen Kindern das Leben. Denn insgesamt "109 Schüsse", so die Ermittler, wurden beim Amoklauf nicht abgefeuert. Tim K. eröffnet im Treppenhaus das Feuer auf die Polizisten und flüchtet. Er erschießt im anliegenden Park den Mitarbeiter einer psychiatrischen Klinik und sieht dann in der Innenstadt von Winnenden auf dem Parkplatz einen grünen Sharan. Darin wartet der 41 Jahre alte Igor W. aus Waiblingen auf eine Verwandte. Tim K. hält ihm sofort die Waffe an den Kopf, setzt sich auf den Rücksitz und brüllt: "Losfahren." Auf der A 8 geraten sie in einen Stau, und Tim K. fragt seine Geisel am Steuer: "Soll ich mir einen Spaß machen und hier ein paar Autofahrer abknallen?" Igor W. versucht den Amokläufer zu beruhigen. Und er sieht seine einzige Chance, "dem Tod zu entkommen", als er auf der Landstraße in einer Kurve kurz vor einer Autobahnauffahrt einen Streifenwagen entdeckt. Er steuert den Sharan auf ein Feld, springt aus dem noch rollen-den Auto heraus, hastet zu den Beamten.

Tim K. flüchtet zu Fuß. Er betritt ein VW-Autohaus in Wendlingen, verlangt lautstark einen Wagen. Ein 36 Jahre alter Angestellter und ein 46 Jahre alter Kunde führen an einem Tisch ein Verkaufsgespräch. Sie reagieren nicht sofort und bezahlen das mit ihrem Leben. Tim K. tötet sie mit insgesamt 13 Schüssen. Als er das Magazin wechselt, können zwei weitere Personen aus dem Autohaus flüchten.

Tim K. tritt wieder auf die Straße. Zwei Polizeibeamte nähern sich dem 17-Jährigen bis auf 50 Meter Entfernung. Einer feuert acht Schüsse auf den Jugendlichen, trifft ihn zweimal in die Beine. Tim K. rennt zurück in das Autohaus, schießt von da aus zwölfmal durch die große Glasscheibe auf die Beamten, flüchtet dann durch den Hintereingang auf den Firmenhof. Dort ist inzwischen ein weiterer Streifenwagen mit zwei Beamten eingetroffen. Tim K. eröffnet sofort das Feuer, verletzt beide Polizisten schwer. Die Beamtin liegt noch auf der Intensivstation, aber beide sind außer Lebensgefahr.

Dann schießt der Amokläufer auf die Mitarbeiter einer angrenzenden Firma, die sofort von innen die Tür verriegeln. Und beobachten, wie Tim K. noch einmal in aller Ruhe das Magazin wechselt und sich dann selbst hinrichtet. Mit dem letzten von insgesamt 113 abgegebenen Schüssen - 60 in der Schule, neun bei der psychiatrischen Klinik, 44 in Wendlingen - beendet er sein kurzes Leben, das bis vor zwei Tagen noch ein gänzlich unauffälliges gewesen ist. Und das nun seziert wird, um das Unerklärliche vielleicht irgendwann einmal erklären zu können.

Denn hier beginnt die zweite Geschichte. Sie fragt nach dem "Warum?", sie sucht nach dem Motiv. Und sie erzählt von der unbemerkten Verwandlung des Tim K. vom behüteten Mittelstandskind in der deutschen Bilderbuch-Provinz zum gnadenlosen Killer. Wann genau begann die Veränderung des jungen Menschen, den die Direktorin der Albertville-Gesamtschule, Astrid Hahn, gestern als "völlig unauffälligen Schüler", der ihres Wissens nach auch "nicht gemobbt" wurde und "in keinster Weise gewalttätig war", bezeichnete? Der zwar nicht die besten Noten bei seinem Realschulabschluss hatte, aber "eine Lehrstelle" und "in ordentlichen Familienverhältnissen" aufgewachsen ist? Der immer wieder als "still, zurückhaltend, etwas verschlossen" und "durchaus freundlich" beschrieben wird. Dem es "an nichts mangelte", der sogar "einen Partykeller hatte", Tischtennis spielte, seit drei Jahren Kraftsport betrieb, speziell Armmuskeltraining.

Der aber auch mehr und mehr fasziniert war von den Waffen des Vaters. Der seinen Vater oft zum Schießen begleitete und selbst mit sogenannten Softair-Waffen hantierte. Der mit seinen wenigen Freunden ausprobierte, wie stark der Druck bei den Schüssen mit diesen gelben Kügelchen war, sodass man es noch aushalten konnte. Von dem sich die Freunde distanzierten, "als Tim der Druck nicht mehr ausreichte".

Der sich dann immer mehr zurückzog. Stundenlang am Computer saß, auf dem die Beamten auch "einige Pornos" sicherstellten. Der Gewalt-, aber auch Unterhaltungs- und Comedyfilme guckte und fasziniert war von "Counter-Strike", diesem Killerspiel, das so viele Jungen in diesem Alter in seinen fürchterlichen Bann zieht.

Wann verschwamm diese Grenze zwischen Tims wirklicher und seiner virtuellen Welt? Wann passierte all das, was laut Psychologen Voraussetzung für einen Amoklauf ist? Die seelische Verletzung, die Grübelphase, der Auslöser. Der vielleicht das nicht erwiderte Interesse eines Mädchens aus der Nachbarschaft war. Der 16 Jahre alte Serkan erzählt, Tim wurde an der Schule "Riesenbaby" genannt, frühere Mitschüler hätten ihn "fertiggemacht", weil er Einzelgänger gewesen sei und keine Freundin gehabt habe. Wie nah waren die Eltern noch bei ihm, als er im April 2008 wegen Depressionen in Heilbronn behandelt wurde? Hätten die Ärzte Alarm schlagen müssen? Und vor allem: Warum haben die Eltern den Ermittlern von den insgesamt fünf psychiatrischen Behandlungen ihres Sohnes in der ersten Vernehmung nichts erzählt?

Reflexartig wird bei solchen Katastrophen stets Christian Pfeiffer befragt. Der Kriminologe aus Hannover ist keiner, der sich für Spekulationen hergibt und hat deshalb gestern auch nur ein paar konkrete Sätze zur Tat sagte. "Als Erstes hätten die Eltern aufmerksam werden müssen", sagte er. "Sie haben ihren Sohn täglich erlebt. Sie hätten wahrnehmen müssen, wenn er sich in einer Notlage befindet. Was ist das für ein Vater, der 15 Waffen braucht, um sein Ego zu stabilisieren?"

Dieser Vater und seine Frau sollen bislang psychologische Hilfe abgelehnt haben. Gestern gingen sie in die Gerichtsmedizin in Stuttgart, um Abschied von ihrem Sohn zu nehmen. Ihrem Kind, das 15 Menschen ermordet hat.