EU-Energiekommissar Günther Oettinger über die Folgen der Energiewende, Merkels Halbzeitbilanz und seine Zuneigung zu Hamburg.

Hamburg. Günther Oettinger ist oft in der Hansestadt, zuletzt besuchte er das Stuttgarter Weindorf auf dem Rathausmarkt - und die Redaktion des Hamburger Abendblatts. Der Energiekommissar der Europäischen Union und frühere CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg sorgt sich um den Industriestandort Deutschland.

Hamburger Abendblatt: Herr Oettinger, ist Hamburg für Sie Heimat?

Günther Oettinger: Ich bin gerne in Hamburg. Meine Partnerin, ihre Familie und ihre Freunde leben in der Stadt. Ich würde sogar sagen, dass ich Wurzeln geschlagen habe in Hamburg. Aber meine Heimat bleibt Stuttgart.

Was macht eine Stadt zur Heimat?

Oettinger: Heimat ist für mich die Stadt, in der man geboren ist. In Stuttgart habe ich auch über 50 Jahre gelebt. Aber ich habe ich Zuneigung zu zwei weiteren Städten entwickelt: Hamburg und Brüssel.

Drei Lebensorte - braucht man dafür besonderes Organisationstalent?

Oettinger: Das kann man wohl sagen. Für meine Lebensgefährtin Friederike und meinen Sohn Alexander gilt das genauso.

Wie lange geht das gut?

Oettinger: Als Energiekommissar reise ich auch noch viel: in Regionen, aus denen unsere Rohstoffe kommen, wie den kaspischen Raum. Oder in Länder wie China, mit denen wir Forschungspartnerschaften haben. Das kostet Zeit. Mein Mandat als EU-Kommissar dauert fünf Jahre. Das will ich erfüllen.

Welches Bauprojekt imponiert Ihnen mehr - die Elbphilharmonie oder Stuttgart 21?

Oettinger: Die Elbphilharmonie ist grandios. Ich kann es kaum erwarten, das NDR-Sinfonieorchester in diesem Konzertsaal zu hören. Stuttgart 21 trägt dazu bei, unseren Wohlstand zu sichern. Infrastrukturprojekte sind notwendig, damit wir uns Kultur leisten können.

Ist der Widerstand gegen Stuttgart 21 jetzt gebrochen?

Oettinger: Die Mehrzahl der Bürger akzeptiert den positiven Stresstest. Es wird aber zu weiteren Protestaktionen kommen. Das wird eine schwierige Aufgabe für die Polizei.

Grün-Rot will das Volk befragen ...

Oettinger: Ich habe meine Zweifel, ob die Landesregierung einen verfassungskonformen Volksentscheid hinbekommt. Die Hürden sind sehr hoch.

Verspüren Sie klammheimliche Freude, dass ausgerechnet die Grünen den Bahnhof bauen müssen?

Oettinger: Schadenfreude ist mir fremd. Der neue Ministerpräsident Kretschmann stand auch nie an der Spitze des Widerstands gegen Stuttgart 21.

Im Norden gibt es Protest vor allem gegen Gorleben. Wären Sie mit einem Atom-Endlager in Ihrer Heimat einverstanden?

Oettinger: Untersuchungen haben ergeben, dass es in Baden-Württemberg keine geeigneten Gesteinsschichten für ein Endlager gibt. Die Entscheidung, ausschließlich den Salzstock in Gorleben zu erkunden, ist fachlich begründet.

Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Oettinger: Die Endlager-Richtlinie der EU, die jetzt in Kraft getreten ist, schreibt vor: Jeder Mitgliedstaat muss in spätestens vier Jahren ein verbindliches Drehbuch zum Endlagerbau vorlegen. Standort und Größe sind allerdings Sache der Mitgliedstaaten.

Könnte Deutschland seinen Atommüll auch ins Ausland liefern?

Oettinger: Rechtlich wäre das möglich. In Deutschland fällt radioaktiver Müll aber in erheblichen Mengen an. Das spricht für ein eigenes Endlager. Andere Länder sind in dieser Frage schon viel weiter als Deutschland. In Finnland wird in acht oder neun Jahren ein Endlager in Betrieb gehen. Schweden und Frankreich folgen. Ich erwarte, dass Deutschland rasch einen ehrgeizigen, glaubwürdigen und verbindlichen Zeitplan vorlegt. Keine Bundesregierung soll mehr die Möglichkeit haben, das Endlager-Thema auszusitzen oder wie einen Wanderpokal an die nächste Regierung weiterzureichen.

Wann wird es ein deutsches Endlager geben?

Oettinger: Realistisch sind 25 Jahre - wenn es auf Gorleben hinausläuft. Wenn die Endlager-Suche ausgeweitet wird, kann es 30 Jahre oder länger dauern.

Wie können die Menschen im Wendland - oder wo immer das Endlager entsteht - besänftigt werden?

Oettinger: In Finnland haben sich mehrere Gemeinden geradezu darum gerissen, Endlager-Standort zu werden. Ein Grund sind die Arbeitsplätze, ein anderer die Steuereinnahmen. In Deutschland überwiegen die Vorbehalte.

Zu Unrecht?

Oettinger: Nukleare Abfälle so lange wie möglich auf dem Gelände von Kernkraftwerken zu lagern kann nicht die Lösung sein. Das hat sich in Fukushima gezeigt, wo die abgebrannten Brennstäbe die Katastrophe verschärft haben. Bei den Endlagern haben wir einen Stand der Technik erreicht, der praktisch jedes Risiko ausschließt.

Deutschland hat auf einen Schlag acht Atomkraftwerke stillgelegt und will die übrigen neun bis 2022 vom Netz nehmen. Werden Sie in Brüssel manchmal gefragt, ob Ihre Landsleute verrückt geworden sind?

Oettinger: Deutschland hat eine weitreichende Energiewende besonders schnell vollzogen. Das stößt nicht überall auf Begeisterung. Jetzt kommt es auf die Abstimmung an. Die Energiewende muss europatauglich gemacht werden.

Soll heißen?

Oettinger: Im September wird es in Polen eine EU-Konferenz geben, die sich mit den Reaktionen auf Fukushima befasst. Dabei geht es um Produktionskapazitäten, Leitungsausbau, Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeit von Strom.

Wie teuer wird Strom?

Oettinger: Deutschland hat jetzt schon den teuersten Strom in der EU - hinter Dänemark. Für die Industrie wird Energie zum entscheidenden Kostenfaktor. Die Bundesregierung muss alles tun, damit Strom nicht noch teurer wird. Sonst können Branchen wie Stahl oder Kupfer nicht mehr kostendeckend produzieren. Wir müssen einen Deckel auf den Strompreis legen. Sonst zwingen wir die Industrie, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern. Gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass die Strompreisvergünstigungen, die Deutschland energieintensiven Unternehmen gewähren will, mit EU-Wettbewerbsrecht vereinbar sind.

Strompreis deckeln - das klingt nicht nach Marktwirtschaft.

Oettinger: Mir geht es um den staatlichen Anteil. Die Bundesregierung ist besonders kreativ, wenn es darum geht, den Haushalt mit neuen Steuern und Abgaben zu sanieren. Der Strompreis ist zu 48 Prozent von politischen Faktoren bestimmt - etwa von der Ökosteuer, dem Erneuerbare-Energien-Gesetz und der Brennstoffsteuer.

Also runter mit den Steuern?

Oettinger: Die Politik darf die Energieversorger jedenfalls nicht mit weiteren Steuern und Abgaben belasten.

Wie groß ist die Gefahr eines Stromausfalls?

Oettinger: Die vier großen Netzeigentümer sind rund um die Uhr höchst beschäftigt, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Ein Blackout droht, wenn weitere Kernkraftwerke abgeschaltet werden, ohne durch entsprechende alternative Kraftwerke ersetzt zu werden - und wenn wir den Ausbau der Netze nicht entschlossen vorantreiben.

Dagegen gibt es großen Widerstand.

Oettinger: Wir müssen die Genehmigungsverfahren beschleunigen - unter Beteiligung der Bürger. Dazu brauchen wir neue Stellen in den Planungsbehörden und bei den Gerichten.

Erst die Laufzeitverlängerung, dann der beschleunigte Atom-Ausstieg. Wie sieht die schwarz-gelbe Halbzeitbilanz aus Sicht des Brüsseler Energiekommissars aus?

Oettinger: Nach Fukushima hat die Koalition naheliegende Konsequenzen gezogen. Das Vorhaben ist ehrgeizig. Jetzt kommt es darauf an, wie die Energiewende umgesetzt wird.

Worauf wollen Sie hinaus?

Oettinger: Deutschland braucht eine strategische Gesamtplanung. Schwarz-Gelb hat festgelegt, wann welche Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Aber nicht, wann welche Offshore-Windparks in Betrieb gehen, und auch nicht, wann welche Überlandleitungen gebaut werden. Wenn das gelingt, verdient die Bundesregierung am Ende der Wahlperiode eine gute Note für innovative Energiepolitik.

Was ist die größte Leistung von Angela Merkel, seit sie mit der FDP regiert?

Oettinger: Dass sie Wolfgang Schäuble den Rücken frei hält.

Tut sie das?

Oettinger: Die Kanzlerin hilft dem Finanzminister, die Schuldenbremse einzuhalten.

Als Nächstes werden die Steuern gesenkt.

Oettinger: Die FDP weckt Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann. Ich fürchte, Steuersenkungen sind nicht das Wundermittel zur Kräftigung der Liberalen.

Bleibt die FDP der Wunschpartner der Union?

Oettinger: Ziel muss sein, mit der FDP eine bessere Politik zu machen. Ich halte eine Erholung der Liberalen nicht für ausgeschlossen. Bei der Bundestagswahl 2013 kann es reichen für Schwarz-Gelb.

Eher reicht es für Schwarz-Grün.

Oettinger: Wo Union und FDP eine Mehrheit haben, ist Schwarz-Gelb die beste Lösung. Schwarz-Grün ist allerdings besser als Rot-Grün und sollte sofort erwogen werden, wenn es für Schwarz-Gelb nicht reicht. Voraussetzung ist, dass Grundvertrauen zwischen den Handelnden besteht.