Nordrhein-Westfalen hat eine neue Ministerpräsidentin. Kraft ist im zweiten Wahlgang zur neuen Regierungschefin gewählt worden.

Hamburg/Düsseldorf. Der Tag, an dem Hannelore Kraft erste Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen (NRW) werden will, beginnt mit Gegenwind von ganz oben. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält Kraft vor, ein zentrales Wahlversprechen gebrochen zu haben. "Sie hat im Wahlkampf immer wieder betont, dass ein Land wie NRW eine stabile Regierung braucht", hatte sie der "Rheinischen Post" gesagt. Dies sei nun nicht der Fall. Merkels Worte sind der wuchtige Nachhall einer Diskussion über die Stabilität einer rot-grünen Minderheitsregierung. Seit gestern beginnt nun in Düsseldorf ein politisches Experiment, von dem noch niemand genau weiß, wie lange es gut gehen wird: In NRW regiert erstmals im Westen Deutschlands eine Koalition ohne klare Mehrheit. Handlungsfähigkeit und Stabilität muss Rot-Grün bei den anstehenden Gesetzesvorhaben erst noch beweisen. Die Wahl zur Regierungschefin hat Kraft gewonnen.

11.50 Uhr: Der Plenarsaal des Düsseldorfer Landtags ist schon gut gefüllt. Noch ist Hannelore Kraft SPD-Landeschefin. Noch weiß sie nicht, ob alles läuft wie geplant. Im dunkelblauen Kostüm streift die 49-Jährige durch die Stuhlreihen, schüttelt Hände und plaudert mit den Abgeordneten. Ehemann Udo und ihr 17 Jahre alter Sohn Jan sitzen auf der Zuschauertribüne. Jan macht Handyfotos, Herr Kraft filmt mit der Videokamera. Vielleicht ist seine Frau nervös. Vielleicht ist sie aber auch völlig siegesgewiss. Ihr Gesicht verrät nichts.

11.58 Uhr: Ganz anders ist es bei Sylvia Löhrmann, der Grünen-Chefin, die Vize-Ministerpräsidentin werden will. Mit roten Mappen unter dem Arm kommt sie erst kurz vor der Abstimmung. Sie knetet ihre Hände. Erst als sie Hannelore Kraft zur Begrüßung umarmt, lacht sie. Auch Kraft strahlt. Eher verhalten ist die Freude von Jürgen Rüttgers. Es sind seine letzten Stunden als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Nach den Landtagswahlen am 9. Mai, bei denen seine CDU mehr als zehn Prozent der Wählerstimmen verloren hatte, trat er von seinem Amt zurück.

12.10 Uhr: High Noon am Rhein - ein paar Minuten zu spät. Der neue Landtagspräsident Eckhard Uhlenberg eröffnet die Sitzung. Alle 181 Abgeordneten werden namentlich aufgerufen, in die Wahlkabine zu gehen und ihre Stimme abzugeben. Das Votum ist geheim.

12.41 Uhr: Eckhard Uhlenberg verkündet das Ergebnis. Alle 181 Abgeordneten haben gewählt. 90 Stimmen entfallen auf Hannelore Kraft, 81 gegen sie, zehn haben sich enthalten. Kraft hat es im ersten Wahlgang nicht geschafft. Aber das war auch das Ergebnis, mit dem alle gerechnet haben. Krafts Reaktion: keine. Ein kurzes Lächeln, die Ellenbogen hat sie auf die Stuhllehnen gestützt. Die gute Nachricht ist, dass das eigene Lager offenbar zusammengehalten hat. Genau 90 Sitze fallen auf SPD und Grüne. Die schlechte Nachricht ist, dass sich möglicherweise eines der elf Mitglieder der Linkspartei nicht wie angekündigt enthalten hat. Genau darauf kommt es aber beim zweiten Wahlgang an, bei dem Kraft die einfache Mehrheit reicht. Trotzdem gilt: Wenn sich dieses Ergebnis in der nächsten Runde wiederholt, schafft sie es.

12.42 Uhr: Der zweite Wahlgang beginnt. Während Kraft auf ihren Namensaufruf wartet, lehnt sie sich in ihrem Stuhl zurück. Sylvia Löhrmann verlässt kurz den Saal, um frische Luft zu schnappen. Es ist ein heißer Tag in Düsseldorf. Kurz nach 13 Uhr ist die Auszählung vorüber. Wieder entfallen 90 Stimmen auf Kraft, Applaus im Saal. Kraft lächelt kurz, bleibt dann ernst. Sie will sich nicht zu früh freuen. Doch es hat gereicht. 80 Stimmen sind gegen sie, elf haben sich enthalten. Alles wie geplant. Dann steht auch Kraft von ihrem Stuhl auf - und strahlt. Hannelore Kraft ist jetzt die erste Ministerpräsidentin von NRW und Chefin einer rot-grünen Minderheitsregierung.

13.15 Uhr: Dann geht alles ganz schnell. Kraft wird in ihrem Amt vereidigt. Sie hält ihre Antrittsrede und dankt als allererstes Jürgen Rüttgers und seinem Kabinett für "die engagierte Arbeit". Die Mehrheitsbildung werde in Zukunft schwieriger werden, sagt sie dann mit Blick auf ihre Minderheitsregierung. "Wir wollen gemeinsam mit allen Fraktionen darum ringen, den besten Weg für unser Land zu gestalten." Danach strömen alle in den angrenzenden Bürgersaal zum Empfang. Kraft bekommt Rosen überreicht, sie hat Freudentränen in den Augen. Auch Sylvia Löhrmann ist gerührt: "Es ist eine große Freude, dass NRW jetzt von zwei Frauen an der Spitze regiert wird."

Kurz nach 15 Uhr: Glückwünsche kommen auch aus Berlin. Der Parteichef der SPD, Sigmar Gabriel, zeigt sich erfreut, dass erstmals seit 2001 eine Sozialdemokratin einen CDU-Ministerpräsidenten abgelöst habe. Gabriel richtet auch warnende Worte an die Opposition: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass CDU, FDP und Linke gemeinsam eine Blockade-Koalition bilden", sagt er.

Noch am Abend will Hannelore Kraft in das Büro ihres Vorgängers Rüttgers einziehen. Aus der zehnten Etage der Staatskanzlei hat sie Blick auf den Medienhafen. Kraft hat schon angekündigt, dass alles zunächst so eingerichtet bleiben soll wie bisher. Nur seine Bücher nimmt Rüttgers mit.