Nach neuen Vorwürfen gegen Bundespräsidenten Christian Wulff ist von Kanzlerin Merkel nichts zu hören. Auch deshalb wird es eng für Wulff.

Hamburg/Berlin. Wenn einem Politiker das Wasser bis zum Hals steht, kommt es auf jede Nuance an. Jedes Statement wird seziert, jeder Parteikollege befragt, jedes Dokument noch einmal durchgeblättert. Nebensachen werden zu Zeugnissen eines Scheiterns. Kurze Mitteilungen werden zu gewichtigen politischen Aussagen. So eine zum Beispiel: Gestern um kurz vor 13 Uhr tickert eine Meldung über die Agenturen: "Merkel und Wulff empfangen Sternsinger". Am Donnerstag sollen katholische Jungen und Mädchen im Kanzleramt singen, am Freitag sind Sternsinger zu Gast bei Bundespräsident Christian Wulff im Schloss Bellevue. Das politische Jahr wird eröffnet, ganz nach Tradition, alles nach Plan. Es ist doch gar nichts los. Das jedenfalls suggeriert diese Pressemitteilung. Ein schöner Schein, an einem Tag, an dem fraglich ist, ob sich der Bundespräsident überhaupt bis Freitag im Amt halten kann.

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Wulff aber will den Sturm durchstehen, der mit der "Bild"-Veröffentlichung über seinen 500 000-Euro-Kredit vor drei Wochen begann. Das zumindest verrät die Mitteilung zu den Sternsingern. Doch sie verschwindet unter dem Haufen von Schlagzeilen, die es auch gestern wieder über Wulff gab. "Der isolierte Präsident", hieß es im Internet. "Ein Präsident im Affären-Sumpf" und "Kaum noch Rückhalt für Wulff" lauteten andere Überschriften. Zu den Schlagzeilen kamen weitere Vorwürfe: Bereits im vergangenen Sommer hatte Wulff vergeblich versucht, einen ihm unliebsamen Artikel zu verhindern. Die "Welt am Sonntag" plante damals einen Bericht über Wulffs Familiengeschichte. Der Bundespräsident habe telefonisch auch bei der Verlagsführung interveniert, einer der Autoren sei zum Gespräch ins Schloss Bellevue gebeten worden. Ende Juni erschien in der "Welt am Sonntag" dennoch ein Stück über Wulffs Halbschwester.

Drohanrufe bei Redaktionen, eine Staatsanwaltschaft, die eine Anzeige gegen den Bundespräsidenten wegen Nötigung prüft - und ein neuer Vorfall, in dem der Präsident um Sponsorengeld für einen Eventmanager geworben haben soll. Die Liste der Vorwürfe wird länger. Und gerade das ist gefährlich für Wulff. Doch der schweigt. Und lässt durch sein Präsidialamt nur die Termine der Woche bestätigen.

In der schwarz-gelben Koalition gibt es kaum noch Rückhalt für den Präsidenten. Spitzenpolitiker von CDU und FDP wagten keine Kommentare über das Staatsoberhaupt. Kein Mitglied der Bundesregierung sprang Wulff gestern zur Seite. Auch die Bundeskanzlerin nicht. Das Schweigen hat in der Politik eine Strategie, in der ständig mitgeteilt, verlautet, flurgefunkt und gesimst wird. Schweigen aber ist Abstrafung, Schweigen lässt der Öffentlichkeit kalkuliert Raum für Spekulationen, Schweigen ist ein Signal - in diesem Fall eines für den geschwundenen Respekt gegenüber Wulff. Merkels letzte Äußerung zu diesem Thema datiert vom 19. Dezember. Sie habe "volles Vertrauen in die Person Christian Wulff". Im Geschäft der Politik sind zwei Wochen eine Ewigkeit.

Doch Angela Merkels Schweigen ist auch Kalkül für ihr eigenes Machtspiel. Sie will bei einer möglichen Neuwahl des Präsidenten keine Niederlage riskieren. Denn in der Bundesversammlung, die einen Wulff-Nachfolger wählen müsste, kann die CDU-Chefin nicht auf eine sichere Mehrheit bauen. Schon Wulff schaffte es bei seiner Wahl 2010 erst im dritten Anlauf. Würden sich Grüne und SPD mit ihren Kandidaten bei einer Wahl durchsetzen, wäre das auch ein Signal für einen Machtwechsel im Bund. Merkel wird sich erinnern an 2004, als Horst Köhler zum Staatsoberhaupt gewählt wurde. Sie und der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle feierten dies als ersten Triumph über die damals regierende Koalition von SPD und Grünen. Ein Jahr später wurde Rot-Grün abgewählt.

Wie kommt ein Präsident ins Amt - und wieder heraus?

Doch vielleicht schadet das Ausharren Merkel am Ende selbst. Christian Wulff ist Bundespräsident, weil die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende es so wollte. "Die Kanzlerin hat ihn ins 'goldene Gefängnis', ins Schloss Bellevue, expediert, er war als stellvertretender Bundes-Vize zu gefährlich für Merkel", sagt der Politikwissenschaftler und CDU-Experte Gerd Langguth. Wulff ist auch ein Präsident, der der Kanzlerin keine Schwierigkeiten beim Regieren macht. Anders vielleicht als ein Joachim Gauck oder eine Ursula von der Leyen. Merkel hat Wulff ins Amt geholt. Zwar ist er jetzt parteistrategisch nicht mehr gefährlich für die Kanzlerin - doch ist sie nun auch Rechenschaft schuldig für "ihren" Kandidaten. Merkel könnte mit einer öffentlichen Äußerung entscheidend einwirken auf einen Rücktritt Wulffs - oder auf dessen Verbleib im Amt. Doch Merkel hält sich zurück. Zumindest vor der Presse.

Deutlicher wird die Kritik von der Koalition, wenn man die Regierungsreihen verlässt. Sie sehe die Debatte um Bundespräsident Wulff mit großer Sorge, sagte Hamburgs FDP-Bundestagsabgeordnete Sylvia Canel. "Unser Land verliert Ansehen, Vertrauen und Würde. Und die Gräben zwischen Wulff, seinen Kritikern und den Medien klaffen immer weiter auseinander. Das muss aufhören." Aus Niedersachsen kommt sogar aus der eigenen Partei Kritik an Wulff. "Viele Parteifreunde haben bei mir angerufen, alle äußerten sich negativ zu Wulffs Verhalten", sagte der stellvertretende Fraktionschef im Landtag, Karl-Heinz Klare, der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung".

Wulffs Stuhl wackelt. Vielleicht sind es die Kleinigkeiten, auf die es am Ende ankommt. Die Nebenschauplätze, die eine Entscheidung bringen. Mehrere Online-Wettanbieter haben die Frage nach Wulffs Rücktritt in ihr Angebot aufgenommen. Die Quoten stehen eindeutig auf Rücktritt.