Helfer versuchen pausenlos zu retten, was zu retten ist. Viele Nachbarn werden nicht in ihre Wohnungen zurückkehren können. Mit Bildern von dem Einsturz und den Rettungsarbeiten.

Köln/Hamburg. Am Morgen nach der Katastrophe zieht es Christiane Haerlin an den Ort des Einsturzes zurück. Von einem Absperrband aus schaut sie hinüber zu den Trümmern des Historischen Stadtarchivs in Köln. Irgendwo unter den Bergen aus Schutt und Beton liegt ein Jahr ihres Lebens begraben. So lange hat die Autorin an einem Buch über Köln gearbeitet. "Alles war fertig, sogar das Inhaltsverzeichnis stand schon", sagt sie. Sie hatte keine Gelegenheit mehr, ihren Laptop zu greifen, als sie am Dienstag aus dem Archiv fliehen musste. Kaum hatte sie die Straße erreicht, brach das Gebäude in der Kölner Südstadt hinter ihr zusammen. Haerlin verlor "nur" ihr Manuskript, andere verloren ihr Zuhause. Zum Beispiel Berufsschullehrer Marco Schönecker: "Ich war in der Schule, als es passierte. Ich hatte nur mein Portemonnaie bei mir, mein Handy und die Klamotten, die ich jetzt noch am Körper trage", erzählt der 37-Jährige. Sein Wohnhaus steht zwar noch, ist aber akut einsturzgefährdet. "Von mir aus sollen sie es abreißen, aber ich muss vorher noch ein paar Sachen rausholen."

Schönecker hatte sich gestern mit anderen betroffenen Anwohnern in Sichtweite des Trümmerbergs in einem Büro der Kölner Verkehrsbetriebe versammelt. Die Stadt hat ihnen 250 Euro ausgezahlt, damit sie das Wichtigste besorgen können: Lebensmittel, Kleidung, Hotelzimmer. Autorin Christiane Haerlin würde jedoch alles Geld der Welt nicht helfen, ihren Schaden wieder gutzumachen. Am liebsten würde sie selbst nach ihrem Computer wühlen. Doch der Schuttberg wirkt wie ein unbezwingbarer Gipfel, dessen Besteigung niemand wagt. Selbst die Feuerwehr scheint hilflos. "Wir kommen einfach nicht vorwärts. Das Nachbarhaus ist extrem einsturzgefährdet", sagt Kölns Feuerwehrchef Stephan Neuhoff. Ein Abtragen der Trümmer komme deshalb vorerst nicht infrage.

Einig sind sich die Rettungskräfte gestern, dass noch zwei Männer vermisst werden. Sie hatten je eine Wohnung im Dachgeschoss eines Hauses neben dem Archiv gemietet. Sollten sie unter den Trümmern begraben sein, sind ihre Überlebenschancen "gleich null", sagt Neuhoff. In der Nacht hatten Spürhunde angeschlagen. Doch die Retter dürfen nicht retten. Das Gelände ist instabil, die Gefahr zu groß.

Ein Zusammenhang des Unglücks mit einer U-Bahn-Baustelle gilt als wahrscheinlich. Das Archivgebäude an der Severinstraße war am Dienstag in einem 28 Meter tiefen Schacht der Baustelle versunken. "Wir wissen relativ sicher, was passiert ist, aber noch nicht, warum", sagt der Vorstandssprecher der Kölner Verkehrsbetriebe, Jürgen Fenske. In dem Bauschacht sei aus unbekannten Gründen eine Öffnung entstanden, in die Erde nachgerutscht sei. Dadurch sei dem Historischen Archiv und auch angrenzenden Häusern praktisch der Boden entzogen worden.

Unter sich begruben die Gebäude auch mehr als 1000 Jahre Geschichte. Kräfte des Technischen Hilfswerks (THW) bemühen sich, das "Gedächtnis der Stadt" zu retten: Aus einem unzerstörten Anbau tragen sie pausenlos vergilbte Dokumente und jahrhundertealte Urkunden heraus. Schon jetzt steht fest, dass der Einsturz des Archivs eine Katastrophe nicht nur für die Kultur der Stadt Köln ist, sondern für Deutschland insgesamt. Den Wert des Bestandes schätzt Kulturdezernent Georg Quander auf 400 Millionen Euro. Die Kunstschätze, Bücher und Akten sind nach Angaben der Provinzial-Versicherung bis zu einer Höhe von 60 Millionen Euro versichert. Wie groß der Verlust an Kulturgut tatsächlich ist, lässt sich noch nicht beziffern. Im schlimmsten Fall ist er jedoch erheblich größer als beim Brand der Herzogin-Anna-Amalia-Biliothek in Weimar. Dort hatte ein Feuer 2004 u. a. rund 50 000 Bücher unwiederbringlich zerstört.

Die Dokumente, die jetzt in Köln begraben liegen, stammen zwar überwiegend aus der Geschichte der Domstadt, haben aber aufgrund der enormen Bedeutung Kölns seit dem Mittelalter europäische und teils sogar weltgeschichtliche Relevanz. Die im Mittelalter entstandene Institution gilt als das größte kommunale Archiv nördlich der Alpen. Zum Bestand gehören 65 000 Urkunden, 26 Regalkilometer Akten, 104 000 Karten und Pläne, 50 000 Plakate, eine halbe Million Fotos sowie 780 Nachlässe und Sammlungen.

Die Archivleiterin Bettina Schmidt-Czaia, die das einstürzende Gebäude noch in letzter Minute verlassen hatte, steht unter Schock. Sie geht davon aus, dass der größte Teil des Bestandes vernichtet worden ist. Stefan Palm von der städtischen Pressestelle sagt dem Abendblatt: "Wir haben schon eine wasserdichte Plane über den Schuttberg gelegt. Langfristig soll eine Dachkonstruktion über dem Gelände errichtet werden. Das ist schon deshalb notwendig, weil nach Aussage der Archivleiterin die Bergung der möglicherweise noch erhaltenen Dokumente Jahre in Anspruch nehmen wird." Aus restauratorischer Sicht ist keineswegs alles verloren. Wie Manfred Anders, der Geschäftsführer des renommierten Leipziger Zentrums für Bucherhaltung, dem Abendblatt sagt, bestehen gute Chance, einen großen Teil der Bestände zu retten. "Die größte Gefahr ist die Feuchtigkeit. Papier ist in dieser Hinsicht sehr und Pergament superempfindlich. Daher ist es enorm wichtig, den Schuttberg vor Regenwasser zu schützen", sagt Anders. Aber: "Zurzeit hat natürlich die Suche nach möglicherweise noch verschütteten Personen absoluten Vorrang", betont Stadtsprecher Palm.

Am frühen Nachmittag steht fest, dass sich die Suche nach den möglichen Opfern um einen weiteren Tag verschiebt. Es müssen zwei Kräne für weitere Abrissarbeiten aufgebaut werden. Doch das Gewicht der Kräne, die in der Nacht zu Donnerstag eintreffen sollen, ist ein Problem. "Ein Fahrzeug wiegt etwa 100 Tonnen. Wir müssen die Zufahrt auf der Rückseite des Archivs so befestigen, dass die Kräne dort fahren können", sagt ein Feuerwehrsprecher. Deshalb könne frühestens heute etwa mit der Beseitigung herunterhängender Dachbalken begonnen werden.

Immer klarer wird, dass die Rettungskräfte die Lage eher unterschätzt haben. "Die Einsturzgefahr stellt sich größer dar, als wir bisher geahnt haben", sagt Feuerwehrsprecher Daniel Leupold. Das Gelände sei extrem fragil. Das zeigen die deutlichen Risse in sogenannten Gipsplomben, die die Einsatzkräfte in umliegenden Gebäuden angebracht und über mehrere Stunden beobachtet haben. Die Risse beweisen, dass die Häuser noch immer in Bewegung sind. Immerhin gelingt es den Einsatzkräften, die Grube mit mehr als 1300 Kubikmeter Flüssigbeton zu befüllen. "Da kann jetzt definitiv keine Erde mehr nachrutschen", so Leupold.

Luka Frank und seine Freundin Manuela Reindl bleiben skeptisch. Sie haben sich gedanklich bereits aus der Südstadt verabschiedet. Als die Häuser einbrachen, wurde das Paar obdachlos. "Kein Mensch kann sich hier mehr sicher sein. Es soll endlich jemand die Notbremse ziehen und den U-Bahn-Bau stoppen", fordert Frank. Vorübergehend sind beide in einem städtischen Wohnheim untergekommen. Im Kölner Norden, weit weg von dem neuen U-Bahn-Tunnel.