Syrische Rebellen melden Erfolge in der Hauptstadt und erobern Grenzposten. Aber Assads Armee kann noch zuschlagen und Viertel zurückerobern.

Damaskus. Geschäfte und Märkte sind geschlossen. Nur die Bäckereien und Apotheken arbeiten noch. Schüsse und Explosionen sind zu hören, Rauch liegt über der Hauptstadt. Damaskus brennt. Ein Schock für die Bewohner, die trotz des seit 17 Monaten andauernden Bürgerkriegs bisher ein normales Leben führen konnten. Nur einigeMilitärposten vor Regierungsgebäuden oder auf Umgehungsstraßen erinnerten daran, dass in Syrien Krieg herrscht. Selbst die Kämpfe in den Vorstädten waren weit entfernt. Die beobachtete man zu Hause im Fernsehen, vom Sofa aus. Sogar die Studenten der medizinischen und technischen Fakultäten wollten dieser Tage noch ihre Abschlussprüfungen machen. Einen Strich durch die Rechnung machten die Rebellen mit ihren Angriffen im Herzen von Damaskus. Sie zogen einen Schlussstrich unter realitätsfremde Normalität.

Das syrische Staatsfernsehen sendete am Freitag Erfolgsmeldungen: "Unsere heroischen Truppen haben das Midan-Viertel vollkommen von terroristischen Söldnern bereinigt." DieBehörden hätten große Mengen anWaffen, darunter Maschinengewehre, Sprengstoffgürtel, um sich in die Luft zu sprengen, Panzerabwehrraketen und Kommunikationsausrüstung, beschlagnahmt. Die Freie Syrische Armee (FSA) nannte es einen taktischen Rückzug, um das Leben von Zivilisten nicht weiter zu gefährden. Nach fünf Tagen Beschuss durch Regimetruppen ist der Stadtteil ein Trümmerfeld. Dutzende ausgebrannte Autos, zersplitterte Schaufensterscheiben. Auf den Straßen liegen Tote. Darunter ein junger Mann in der Nähe der Said-Ben-Zeid-Moschee, der in die Brust getroffen wurde. An der Außenwand der Moschee hatjemand mit roter Farbe ein Graffito geschrieben: "Die Moschee der Freien".

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In anderen Vierteln der Hauptstadt gehen die Gefechte zwischen FSA und der syrischen Staatsarmee (SSA) unvermindert weiter, darunter in Mezzeh und in Kafr Susseh - nach Rebellenangaben "in unmittelbarer Nähe des Hauptgebäudes des Premierministers und des militärischen Geheimdienstes". Es handelt sich um ein Viertel, in dem sich zahlreiche Regierungsinstitutionen befinden und normalerweiseeine erhöhte Sicherheitsstufe herrscht. Umso verwunderlicher, dass die FSA ausgerechnet in diesem Stadtteil zuschlagen konnte.

"Das ist die Stunde null", behauptet der syrische Oppositionelle Zaher. "Der Anschlag gab einen ungeheuren moralischen Schub für alle Menschen, die das Regime stürzen wollen." Zaher meint das Bombenattentat vom vergangenen Mittwoch, bei dem insgesamt vier führende Regierungsmitglieder, darunter der Verteidigungsminister und Schwager von Präsident Bascharal-Assad, getötet wurden. Ein Selbstmordattentäter hatte sich als Leibwächter getarnt in das Hauptquartier der Nationalen Sicherheit eingeschlichen. Die FSA und eine Dschihadisten-Gruppe namens Lord der Märtyrer-Brigade übernahmen dafür die Verantwortung.

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Psychologische Momente haben bereits in vielen Kriegen eine entscheidende Rolle gespielt. Im Vergleich zur auf 300 000 Mann geschätzten Armee des syrischen Staates wirkt die FSA mit mehreren Zehntausend Kämpfern wie ein Zwerg. Aber ihre Guerillataktik, die den Gegner landesweit an vielen verschiedenen Orten bittere Nadelstiche versetzt, scheint erfolgreich zu sein. Bisher, muss man sagen. Denn nochist nicht sicher, wie das angeschlageneRegime reagieren wird. Die erste gelungene Offensive gegen die Rebellen im Stadtteil Midan lässt nichts Gutes vermuten. In den anderen betroffenen Vierteln der Hauptstadt gab die syrische Staatsarmee den Bewohnern 48 Stunden, um ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Zu Hunderten fliehen die Menschen in sicherere Gebiete. "Sie fürchten eine groß angelegte Operation der Truppen", meinte das oppositionelle syrische Observatorium für Menschenrechte (SOHR). Auch Bewohner aus Tadamon sowie dem palästinensischen Flüchtlingslager Yarmuk sind auf der Suche nach neuen Unterkünften. "Das ist eine Eskalation, denn das Regime will die beim Bombenanschlag getöteten Sicherheitsbeamten rächen." Mit Sicherheit geht es dem Regime in Damaskus nicht nur um Rache. Es wankt beträchtlich und kämpft vermutlich den entscheidenden Kampf ums Überleben - oder um eine letzte Möglichkeit, doch noch in einem geordneten Rahmen abzutreten.

Der russische Botschafter in Frankreich, Alexander Orlow, behauptete in einem Interview, Präsident Assad sei bereit abzutreten. "Er hat einen Repräsentanten nominiert, der die Verhandlungen mit der Opposition über den Übergang in ein demokratischeres System führen soll", sagte Orlow im französischen Radio. "Das bedeutet, Assad hat zugestimmt, abzutreten. Aber auf einem geordneten Weg." Die Aussagen des Botschafters wurden vom syrischen Informationsministerium als "völlig haltlos" zurückgewiesen.

Naheliegend wäre jedoch der baldige Abgang Assads. Noch ist er keiner Kriegsverbrechen angeklagt, und die internationale Staatengemeinschaft wäre durchaus verhandlungsbereit, um das Blutvergießen in Syrien möglichst schnell zu stoppen. Der Bürgerkrieg wird mit immer brutaleren Mitteln geführt. Allein am vergangenen Donnerstag gab es nach Angaben von SOHR310 Tote. Der Aktivistenorganisation zufolge der bislang blutigste Tag seitBeginn der Proteste gegen Präsident Assad im März 2011.

Sollten seine Truppen in den nächsten Tagen keine entscheidenden Erfolge gegen die Rebellen melden können, bleibt dem syrischen Präsidenten nicht mehr viel Handlungsspielraum. Assad wurde im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, als er einen neuen Verteidigungsminister vereidigte. Eine Szene, die scheinbar im präsidialen Palast aufgenommen wurde. Aber über den tatsächlichen Aufenthaltsort Assad gibt es nur Spekulationen. Sehr wahrscheinlich ist er nach Lattakia geflüchtet, in seinen dortigen Palast, der etwas außerhalb der Hafenstadt liegt.

Wie sehr Assad und seinem Militärregime die Kontrolle abhandengekommen ist, zeigen die Verluste der Grenzposten. Die Rebellen eroberten mehrere Übergänge zum Irak. Darunter istder Checkpoint von Abu Kamal-Qaim,300 Kilometer vor Bagdad an der Euphrat-Autobahn - eine der Haupthandelslinien in den Mittleren Osten. Noch entscheidender sind die Eroberungen von zwei Grenzübergängen zur Türkei: Jarablus und Bab al-Hawa sollen sichin den Händen der FSA befinden. Bab al-Hawa, unweit der türkischen Stadt Antakya, kommt als wichtiger Handelsroute besondere Bedeutung zu.

Für die FSA scheint die Diplomatie nicht mehr wichtig zu sein. Die neuen Erfolge sind wie ein Vorgeschmackauf den großen Sieg über das Assad-Regime. Die an den Vetos Russlands und Chinas gescheiterte Uno-Resolution, die Sanktionen gegen Syrien vorsah, ist für die Rebellen kein Weltuntergang mehr. Ebenso dürfte es für sie kaum ins Gewicht fallen, dass der Sicherheitsratdas Mandat der Beobachtermission um 30 Tage verlängert hat.