Die humanitäre Lage in Gaddafis Geburtsstadt Sirte verschlechtert sich dramatisch. Tausende Bewohner nutzen die Feuerpause zur Flucht.

Tripolis/Kairo. Tausende Bewohner sind am Montag während einer Kampfpause aus der Stadt Sirte geflohen, berichtet der arabische Nachrichtensender Al-Arabija. Weiter hieß es, die Truppen des Übergangsrates bereiteten einen neuen Großangriff auf die Geburtsstadt des untergetauchten libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi vor. Stärkere Einheiten von Gaddafi-Milizen hätten sich dort noch verschanzt. Die Streitkräfte der Übergangsregierung hatten am Freitag einen zweitägigen Waffenstillstand verkündet.

„Wir nutzen die kurze Feuerpause, um die Stadt zu verlassen, da sich auch die humanitäre Lage weiter verschlechtert“, sagte einer der flüchtenden Bewohner dem Sender. In Autokonvois verließen die Menschen die Stadt. Inzwischen hätten knapp 10.000 Bewohner die Stadt verlassen, so eine Schätzung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.

Rotkreuz-Helfer hatten schon am Wochenende von einer schwierigen Lage der Zivilbevölkerung in der umkämpften Stadt berichtet. Verwundete sterben auf dem OP-Tisch, weil plötzlich der Strom ausfällt. Die privaten Apotheker haben dem Zentral-Krankenhaus der 100.000-Einwohner-Stadt ihre Medikamente gegeben – und die gehen jetzt nur Neige. „Es ist eine Katastrophe“, beschreibt der im Hospital als Bio-Chemiker arbeitende Mohammed Schnak die Situation.

„Die Ärzte fangen an zu operieren, und dann geht das Licht aus“, berichtete ein Mann namens Al-Sadik, der sich als Chef der Dialyse-Abteilung zu erkennen gab. Es gebe nicht genug Brennstoff zum Betrieb der Generatoren. „Ich sah ein 14-jähriges Kind auf dem Operationstisch sterben, weil mitten im Eingriff der Strom ausfiel.“

Die Lage in der Stadt und vor allem im Krankenhaus gibt Hilfsorganisationen Grund zur Sorge. Das Rote Kreuz schaffte am Sonnabend erstmals Hilfsgüter zum Hospital: Medikamente und vor allem Sprit für die Generatoren. Die vier Helfer hätten jedoch wegen andauernden Gewehrfeuers nicht mit Patienten des Krankenhauses sprechen können, sagte ein Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Reuters am Samstagabend in Genf. Das IKRK lieferte dem Sprecher zufolge medizinische Güter zur Behandlung von bis zu 200 Verwundeten und Treibstoff am Krankenhaus an. „Sie kamen bis zum Hospital, bekamen die Patienten aber nicht zu Gesicht“, sagte IKRK-Sprecher Marcal Izard. Der Wasserturm des Krankenhauses sei durch Treffer beschädigt worden.

Trotz des Waffenstillstands seien die Wohngebiete im Stadtzentrum unter schweren Beschuss geraten, berichtete der geflohene Chalid Ahmed. „Der Grund für die Schießerei ist, dass Gaddafis Milizen ihre Artillerie in Wohngebäuden in Stellung gebracht haben. Die Kinder sind entsetzt und schreien immerzu.“ Er habe sich Geld geborgt, damit er sich auf dem Schwarzmarkt mit dem für die Flucht nötigen Benzin eindecken könne. Für 20 Liter würden umgerechnet 450 Dollar verlangt.

Eine flüchtende Frau schilderte, dass die Gaddafi-treuen Kämpfer die Menschen wochenlang vor der Flucht aus Sirte gewarnt hätten. Am Sonntag sei sie dann im Morgengrauen mit Ehemann, drei Kindern, der Mutter und einem Bruder aufgebrochen. „Jeder hat auf uns gefeuert. Warum? Wir sind doch unschuldige Menschen.“

Sirte ist eine von zwei Gaddafi-Hochburgen, die noch nicht unter Kontrolle der Übergangsregierung stehen. Um die Stadt wird seit zwei Wochen erbittert gekämpft.

Mit Material von dpa/dapd/rtr