Internetplattform WikiLeaks stellt fast 400 000 geheime Pentagon-Dokumente über Gräueltaten von Militärs und Söldnern im Irakkrieg ins Netz.

Hamburg/Washington. Als sich zwei Iraker der Besatzung eines US-Hubschraubers ergeben wollen, fragen die Soldaten in ihrem Stützpunkt nach. Die Vorgesetzten antworten, Festnahmen im Hubschrauber seien regelwidrig, die beiden Iraker damit immer noch "Ziele". Die US-Soldaten erschießen die Wehrlosen daraufhin.

Ein irakischer Lokalpolitiker stirbt in Polizeigewahrsam - angeblich an "Nierenversagen". US-Pathologen, die den Mann untersuchen, finden neben schweren Blutergüssen im Gesicht, an der Brust, am Fußgelenk und am Rücken auch eine grobe Naht am Unterleib vor - offenbar war an dem Mann bei vollem Bewusstsein ein operativer Eingriff vorgenommen worden. An einem Kontrollposten feuern US-Marines auf ein mit Zivilisten besetztes Fahrzeug - sieben Menschen sterben, darunter zwei Kinder, zwei weitere werden verletzt.

Es sind nur drei von zahllosen weiteren grausamen Vorfällen, die die Internet-Plattform WikiLeaks in insgesamt 391 5832 bislang geheimen amerikanischen Militärdokumenten enthüllt . Es ist das bisher größte Informationsleck in der Geschichte der Vereinigten Staaten.

Die brisanten Dokumenten stammen aus einer Pentagon-Datenbank des Zeitraumes vom 1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2009; einige von ihnen sind also recht aktuell. Sie wurden mehreren Medien zehn Wochen vor der jetzigen Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Die Feldberichte von US-Soldaten über ihren Einsatz sowie über den der "contractors", wie die Söldnerorganisationen im US-Sprachgebrauch genannt werden, und der irakischen Armee zeichnen ein "in jeder Hinsicht beängstigendes Porträt der Gewalt", wie die "New York Times" schrieb.

Schockierend sind vor allem die Berichte über die Brutalität der irakischen Streitkräfte - aber auch über die Bedenkenlosigkeit der Amerikaner, irakischen Folterknechten ihre Gefangenen auszuliefern. Den Dokumenten nach starben allein zwischen 2004 und 2009 insgesamt 109 000 Menschen gewaltsam im Irak, darunter 66 081 Zivilisten und fast 24 000 Menschen, die als "Feinde" deklariert wurden. Die britische Antikriegsgruppe Iraq Body Count kommt nach Auswertung der neuen Dokumente auf mehr als 122 000 getötete Zivilisten zwischen 2003 und heute - damit seien es 15 000 mehr als bislang angegeben worden war.

Das Pentagon verlangte von WikiLeaks, die Dokumente sofort wieder aus dem Netz zu nehmen. US-Außenministerin Hillary Clinton sagte, die Veröffentlichung könne Leben gefährden; zudem stehe die nationale Sicherheit der USA auf dem Spiel. Der Sprecher von US-Verteidigungsminister Robert Gates, Geoff Morrell, nannte die Veröffentlichung "schamlos". "Unsere Feinde können in den Dokumenten nach Schwachstellen suchen, nach bestimmten Verhaltensweisen - nach Informationen also, die ihnen bei künftigen Anschlägen zugutekommen", fügte Morrell hinzu. So würden in den Geheimakten rund 300 Iraker bloßgestellt, die nun "besonders anfällig für Vergeltungsangriffe" seien. Ähnlich kritisch äußerte sich US-Generalstabschef Mike Mullen. Zu den Vorwürfen, irakische Polizisten und Soldaten hätten Gefangene ausgepeitscht, mit Säure und siedendem Wasser übergossen, mit Feuer versengt und willkürlich hingerichtet, sagte der irakische Vize-Innenminister Hussein Kamal, alle Fälle würden untersucht. Die Verantwortlichen würden vor Gericht gestellt. Iraks Ministerpräsident Nuri al-Maliki nannte die Veröffentlichung der Dokumente eine "Medien-Kampagne", die gegen nationale Führer des Landes, vor allem aber gegen ihn selber, gerichtet sei.

Der irakische Parlamentarier Mohmmed Ikbal von der Konsensfront-Partei sagte dagegen, er begrüße die Veröffentlichung - da auf diese Weise auch die Menschen in den anderen arabischen Staaten und im Westen die Wahrheit erführen: "Ich glaube nicht, dass das irakische Volk von der Fülle von Informationen über Menschenrechtsverletzungen der US-Armee während der Besatzungszeit überrascht sein wird, denn jeder Iraker kann selbst über solche Vorfälle berichten."

Der Irakkrieg, der 2003 mit der Invasion der US-geführten Koalition gegen das Regime von Saddam Hussein begann, fällt zwar vor allem in die Regierungszeit von US-Präsident George W. Bush; sein Nachfolger Barack Obama hat den Krieg am 31. August für beendet erklärt und will die US-Truppen bis Ende 2011 abziehen. Doch angesichts der neuen Dokumente wird die Frage diskutiert, ob Obama nach Invasion und Krieg mit 4400 amerikanischen Toten und einer Billion Dollar Kosten die Verantwortung für den Irak guten Gewissens in die Hände eines neuen Folterregimes legen kann.

"Die Wahrheit bleibt auf der Strecke, lange bevor der Krieg beginnt und lange nach seinem Ende", sagte WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Er kündigte weitere Enthüllungen an - obwohl die US-Regierung daran arbeite, seinen Spielraum weiter einzuengen.