Die Enthüllungsplattform zerrt 400.000 Geheimakten ans Tageslicht. Das Gesicht des Krieges wird immer hässlicher. Iraker und Söldner am Pranger.

London/Washington. Die Nebel des Irakkrieges lichten sich. Folter, Hinrichtungen, sinnloses Blutvergießen: Die Internetplattform Wikileaks enthüllt Hunderttausende Akten der US-Armee und spricht von massenhaften Kriegsverbrechen und Gräueltaten. Wikileaks-Gründer Julian Assange stellte sich am Sonnabend in London der Presse und rechtfertigte die beispiellose Bloßstellung der amerikanischen Streitkräfte. Die Dokumente seien klare Beweise für Kriegsverbrechen, sagte er. Mit Blick auf die empörten Regierungen in Washington, London und Bagdad sagte Assange, die Akten seien redaktionell so bearbeitet worden, dass niemand gefährdet werde. „Wir machen weiter“, versprach Assange.

Täter und Opfer waren meist Iraker, doch die Dokumente zeigen auch schwere Verfehlungen von US-Soldaten und deren Söldnern. Es handelt sich um das größte Leck in der Geschichte des Pentagons – Washington schäumt vor Wut. Allein für die Zeit von 2004 bis 2009 sprechen die Unterlagen von 109.000 Toten, davon weit mehr als 60.000 Zivilisten. 15.000 Opfer waren bisher unbekannt. Wikileaks überließ die Papiere ausgewählten Medien rund um den Globus, darunter auch dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“, der „New York Times“ und der britischen Zeitung „Guardian“.

Wikileaks hatte bereits im Juli 90.000 geheime Dokumente zum Afghanistan-Krieg öffentlich gemacht. „Wir haben keine Berichte darüber, dass irgendjemand aufgrund der Veröffentlichungen geschädigt wurde“, sagte Assange. Damals war der 22 Jahre alte US-Gefreite Bradley Manning als mögliche undichte Stelle genannt worden. Er sitzt in den USA in Haft.

In Washington gibt es offensichtlich bereits Planspiele, wie man gegen Assange vorgehen kann. Es stehe „außer Frage“, dass man ihn in den USA unter dem Spionage-Gesetz anklagen könne, zitiert die „Washington Post“ einen CIA-Experten und Berater von CIA-Chef Leon Panetta. Das Problem sei aber, ihn zu fassen zu kriegen. Entweder komme Assange freiwillig in die USA oder ein anderes Land liefere ihn aus, meint der CIA-Mann.

US-Außenministerin Hillary Clinton meinte, die Enthüllungen gefährdeten die nationale Sicherheit der USA. Das Pentagon war außer sich: Wikileaks setze „das Leben unserer Soldaten, unserer Verbündeten und von Irakern und Afghanen aufs Spiel, die für uns arbeiten“.

Wikileaks stellte nach eigenen Angaben 391.832 geheime Berichte der US-Streitkräfte ins Netz. Anhand tausender Bedrohungsanalysen, Angriffsberichte und Verhaftungsprotokolle lasse sich genau rekonstruieren, „wie sich der islamische Bruderkampf zwischen Schiiten und Sunniten entfaltet hat“, schrieb der „Spiegel“. Die irakische Gesellschaft sei durch den Krieg brutalisiert worden.

Der Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation Iraq Body Count, John Sloboda, der gemeinsam mit Assange in London auftrat, sagte, ein großer Teil der Daten stamme aus Berichten von US-Soldaten: „Es ist gut, dass es die Daten gibt, aber es ist schlecht, dass sie geheim gehalten wurden.“ Er schilderte den Fall eines kleinen Mädchens, das von britischen Soldaten brutal niedergeschossen worden sei.

Allein an US-Kontrollposten seien 861 Zivilisten von US-Soldaten getötet worden, schrieb die „Sunday Times“, sechsmal so viele wie Aufständische. Die beschriebenen Folterungen und Hinrichtungen seien von den alliierten nicht verfolgt worden, sagte Sloboda. Er gab die Gesamtzahl der Toten im Irak – anders als Wikileaks selbst – mit 150.000 an – davon vier Fünftel Zivilisten.

Die Dokumente enthüllen, dass im Irak mindestens 15.000 Zivilisten mehr getötet wurden als bisher bekannt – oft durch Folter. Wikileaks zitierte Augenzeugen mit den Worten: „Die einzigen Grenzen, die es gab, waren die Grenzen der Vorstellungskraft.“ In der Mehrzahl der Fälle gehe es um Taten von Irakern an Irakern.

Die „New York Times“ schrieb, dass Häftlinge geschlagen, versengt und ausgepeitscht wurden, sei nicht die Ausnahme gewesen. Einige der Folterungen seien von Amerikanern untersucht, die meisten aber ignoriert worden – „mit einem institutionellen Schulterzucken: Soldaten erstatteten Bericht und baten die Iraker, eine Untersuchung einzuleiten“. Kommentatoren in Washington fürchten bereits, dass nach dem vollständigen Rückzug der im kommenden Jahr wieder Gewalt und Terror im Irak um sich greifen könnte.

Die „New York Times“ spricht von einem „beängstigenden Porträt der Gewalt“. In einem Fall verdächtigten US-Soldaten irakische Offiziere, einem Gefangenen die Finger abgeschnitten und ihn anschließend mit Säure verätzt zu haben. Im Irak wie auch in Afghanistan handele es sich um „moderne, westliche Kriege“, sagte Assange, gegen den in Schweden wegen sexueller Nötigung ermittelt wird. Die Wahrheit bleibe auf der Strecke, „lange bevor der Krieg beginnt und lange nach seinem Ende“.

Die irakische Regierung tat die Veröffentlichung als PR-Kampagne politischer Gegner ab. Die Dokumente enthielten „keinen einzigen Beweis dafür, dass sich die irakische Regierung oder Ministerpräsident Nuri Al-Maliki persönlich unpatriotisch verhalten haben“, ließ die Regierung in Bagdad erklären. Die Dokumente der US- Armee belegen, dass auch Al-Maliki unterstellte Einheiten an Misshandlungen beteiligt waren.