Muslimbruder Mursi wird als Wahlsieger gefeiert, doch seine Rechte werden beschnitten. Er soll etwa 52 Prozent der Stimmen erzielt haben.

Hamburg. Nach der schicksalhaften Präsidentschaftswahl in Ägypten spitzt sich der Machtkampf zwischen der islamistischen Muslimbruderschaft und den herrschenden Militärs weiter zu. Die Muslimbruderschaft, die bereits die größte Fraktion im Parlament stellt, rief ihren Kandidaten Mohammed Mursi bereits zum Sieger des Urnengangs aus - obwohl das offizielle Ergebnis erst frühestens morgen verkündet werden soll. Nach ihren Angaben hat Mursi nach Auszählung von 98 Prozent der Stimmen in den rund 13 000 Wahllokalen rund 52 Prozent erzielt, sein Gegenkandidat Ahmed Schafik lediglich gut 48 Prozent. Schafik war unter dem vor 16 Monaten gestürzten Präsidenten Husni Mubarak Luftwaffenkommandeur und Ministerpräsident; er gilt als Mann des Militärs und des alten Regimes.

Tausende Anhänger der Muslimbruderschaft veranstalteten Autokorsos im Kairoer Stadtteil Mohandessien und sangen auf dem zentralen Tahrir-Platz Jubellieder. Mursi gab sich bereits als Wahlsieger und erklärte, er wolle Diener aller Ägypter sein. Er strebe nach Stabilität, Liebe und Brüderlichkeit in Ägypten sowie nach einem zivilen, demokratischen und modernen Staat. Die Schafik-Parteigänger wiesen die Siegesmeldungen der Muslimbrüder zunächst als verfrüht zurück. Der neue Präsident, der fünfte seit dem Ende der Monarchie vor fast 60 Jahren, ist das erste wirklich frei gewählte Staatsoberhaupt des 85-Millionen-Volkes.

+++ Präsidentenwahl: Streitkräfte planen Machtübergabe +++

Die Generäle des Obersten Militärrats, der seit dem Sturz Mubaraks das Land beherrscht, erklärten, sie wollten die Macht Ende des Monats an den neuen Präsidenten abgeben. Tatsächlich jedoch bleiben sie auch weiterhin die bestimmende Kraft in Ägypten. Zeitgleich mit den Siegesfanfaren der Muslimbrüder veröffentlichten sie überraschend eine Interimsverfassung. Sie sieht vor, dass die - noch von Präsident Mubarak ernannten - Generäle einen 100-köpfigen Ausschuss nominieren, der eine neue Verfassung für Ägypten ausarbeiten soll. Parlamentswahlen sollen erst nach der Verabschiedung dieser neuen Verfassung abgehalten werden - was frühestens Ende des Jahres der Fall sein dürfte, wohl eher noch später. Bis zur Etablierung neuer politischer Strukturen behalten sich die Militärs sämtliche gesetzgeberischen und haushälterischen Befugnisse im Staat vor. Ihren Plänen nach soll der neue Präsident nicht über die Macht verfügen, an der Zusammensetzung des Obersten Militärrats zu rütteln; auch soll die Bestallung des Oberkommandierenden Sache der Generäle sein.

Wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl hatte der Militärrat bereits das Parlament wegen Verfahrensfehler bei der Wahl aufgelöst. Zusammen mit anderen, zum Teil noch radikaleren Islamisten hatten die Muslimbrüder darin über eine Zweidrittelmehrheit verfügt.

Die meisten Muslimbrüder gelten als gemäßigt islamistisch, allerdings gibt es starke radikalislamische und militante Strömungen in der 1928 von Hassan al-Banna gegründeten Bewegung. So gilt der im August 1966 hingerichtete Muslimbruder Sayyid Qutb als geistiger Vater der militanten Dschihadisten im Nahen Osten. Es gibt mehrere Zweige der Muslimbruderschaft in der Region; auch die im Gazastreifen herrschende radikalislamische Hamas hat in dieser Organisation ihre Wurzeln. Die Militärs in Kairo wollen daher verhindern, dass die Bruderschaft Ägypten in einen Gottesstaat nach dem Vorbild des schiitischen Iran verwandelt. Viele Ägypter befürchten dagegen, dass die Revolution gegen das alte Regime mit einem Sieg von Ex-General Schafik endgültig erstickt würde. Wie Schafik war auch Mubarak einst Kommandeur der Luftwaffe. Seine fast 30 Jahre dauernde Herrschaft stützte sich vor allem auf das Militär.

+++ Atmosphäre, angespannt: Präsidentenwahl in Ägypten +++

Der ägyptische Menschenrechtler Hossam Bahgat sagte in der "Washington Post", mit diesem Dokument der Militärs habe Ägypten "vollständig die Welt des Arabischen Frühlings verlassen und betritt den Bereich der Militärdiktatur". Die Muslimbruderschaft kündigte an, die Interimsverfassung der Militärs nicht anzuerkennen; sie sprach von einem "Putsch" der Militärs. Das Dokument der Generäle sei "null und nichtig".

Die Stimmung in Ägypten ist angespannt; der Riss geht quer durch die Gesellschaft. Der prominente Fußballstar und Bruderschaftsanhänger Mohammed Abu-Treka, Mitglied der Nationalmannschaft, sorgte für einen Skandal, als er sich weigerte, sich zusammen mit einem Schafik-Funktionär fotografieren zu lassen. Stattdessen ließ er sich allein ablichten - mit einem T-Shirt, auf dem stand: "An dem Tag, an dem ich eure Rechte aufgebe, werde ich ganz sicher tot sein". Örtliche Medien berichteten, ein Schafik-Wähler habe angekündigt, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, weil sie für Mursi gestimmt habe. Die geringe Wahlbeteiligung, die in den meisten Lokalen nicht einmal 15 Prozent betragen haben soll, erklärte der politische Aktivist Omar Kamel im Londoner "Guardian" auf drastische Art: "Da die Ägypter nur die Wahl hatten, entweder Kot zu essen oder Kot zu essen, entschieden sich die meisten einfach dafür, keinen Hunger zu haben."

Der Chef der Terrororganisation al-Qaida, Aiman al-Sawahiri, rief die Muslimbrüder in einer 47 Minuten langen Videobotschaft dazu auf, den Friedensvertrag mit Israel aufzukündigen und in Ägypten das islamische Recht der Scharia einzuführen. Israel müsse daran gehindert werden, Jerusalem in eine jüdische Stadt zu verwandeln. Im Gazastreifen, der an Ägypten grenzt, rief die Hamas derweil zu Freudenfeiern auf. Ferner forderte Sawahiri alle islamistischen Bewegungen auf, sich gegen die USA zu verbünden. Es war bereits die zehnte Videobotschaft Sawahiris, der nach dem Tod des früheren Al-Qaida-Chefs Osama Bin Laden im vergangenen Jahr die Führung des Terrornetzwerks übernommen hatte.