Nur noch wenige Wochen, dann startet die EM in Polen und der Ukraine. Dort gingen jetzt Bomben hoch. Der Hintergrund der Taten ist noch unklar.

Kiew/Berlin. Aufgewühlte Erde und Bauarbeiter in orangenen Westen säumen die Straßen vom Flughafen Kiew in Richtung Innenstadt. „Kyiv Welcomes You“, steht auf Schildern mit dem Logo der Fußball-EM 2012. Doch ist fraglich, ob es ein unbeschwertes Sportfest werden kann: Neben der Inhaftierung und Misshandlung der ukrainischen Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko werfen nun Bombenanschläge dunkle Schatten auf das Großereignis.

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Am Freitag erschütterten vier Explosionen in der ostukrainischen Stadt Dnipropetrowsk das Land. Dutzende wurden verletzt, die Behörden vermuteten einen Terrorangriff. Bereits wegen Timoschenko, die seit über einer Woche im Hungerstreik ist, hatten Politiker und Menschenrechtler über einen EM-Boykott nachgedacht. Nun wird die unklare Sicherheitslage die Diskussionen weiter anheizen.

Doch hinter der EM-Ausrichtung stecken auch wirtschaftliche Interessen, viele bauen darauf, dass die in sechs Wochen in der Ukraine und Polen beginnende EM viele Besucher nach Kiew lockt. So wie die Hamburger Fluggesellschaft „Hamburg Airways“, die Nachfolgegesellschaft der Ende 2010 Insolvenz gegangenen „Hamburg International“. Sie startete am Donnerstag – einen Tag vor den Anschlägen – zu ihrem ersten Linienflug von der Hanse- in die ukrainische Hauptstadt. „Natürlich haben wir Kiew wegen der EM als erstes Ziel ausgewählt“, sagt Geschäftsführer Sergej Fieger. Dort soll am 1. Juli das Endspiel stattfinden.

Zum ersten Linienflug brachte das Unternehmen eine Flugzeugladung Journalisten, Reiseveranstalter und andere ausgewählte Passagiere für einen Tag von Hamburg nach Kiew. Die sitzen am Donnerstagnachmittag in einem Reisebus und bekommen einen Schnellkurs in der Geschichte der Stadt. „Rechts das rote Gebäude ist die Schewtschenko-Universität, dort hinter dem Park ist das Umweltministerium, und gleich kommen wir auf den Kreschtschatik, den Hauptboulevard Kiews“, sagt Stadtführer Aleksander, während der Bus durch die historische Innenstadt kurvt. Am anderen Ende der Prachtstraße kampieren seit Timoschenkos Inhaftierung im August mehrere Dutzend Aktivisten und fordern ihre Freilassung. Kaum vorstellbar, dass hier in wenigen Wochen eine EM-Fanmeile sein soll.

Noch vor acht Jahren, vor und nach den Präsidentschaftswahlen 2004, war der Kreschtschatik Orange. Die Farbe war auf Fähnchen, T-Shirts oder Schals und stand für Jugend, Freiheit und Aufbruch - lange bevor es in Deutschland die Piratenpartei gab. Eines der Gesichter der „Orangefarbenen Revolution“ war Timoschenko. Sie hatte sich gemeinsam mit dem gewählten Staatspräsidenten Viktor Juschtschenko gegen den als autoritär geltenden Kandidaten Viktor Janukowitsch durchgesetzt und wurde Regierungschefin.

„Die Ukraine ist ein gespaltenes Land, im Westen spricht man Ukrainisch und im Osten Russisch“, sagt Stadtführer Aleksander. Der Wahlsieg über den Russland nahe stehenden Janukowitsch war auch eine Richtungsweisung über die politische Ausrichtung des Landes. Aber die „Orangenen“, die nur knapp gesiegt hatten, enttäuschten die hohen Erwartungen. Bei der Präsidentschaftswahl 2010 unterlag Timoschenko – wieder knapp – ihrem Rivalen Janukowitsch. Der politische Prozess gegen sie, in der ihr ein schlecht ausgehandelter Gasvertrag mit Russland sowie Betrug vorgeworfen wurde, scheint wie eine Abrechnung des neuen Staatschefs, die an Sowjetzeiten erinnert.

Der Reisebus mit den Besuchern aus Hamburg hält vor dem reich verzierten Kiewer Höhlenkloster. In diesem Moment läuft der russisch-orthodoxe Priester Oleksii Bensjuk vorbei. Es sei schön, dass junge Leute aus aller Welt friedlich in Kiew zusammenkommen, sagt der schwarz gekleidete Mann mit dem langen Bart. Von den Anschlägen auf sein Land weiß er noch nichts. Zur Inhaftierung Timoschenkos äußert sich der Geistliche unparteiisch: „Sie hat bestimmt Fehler gemacht, aber der Staat hätte auch anders damit umgehen können.“ Im Kloster arbeiten Jana und Julia. Die jungen Frauen haben einen Stand gemietet und verkaufen Schokolade. „Wir hoffen, dass wegen der EM noch mehr Touristen als sonst das Kloster besuchen und bei uns kaufen“, sagt Jana.

Andere Ukrainer hielten die EM von vornherein für eine Farce, Stadtführer Aleksander nennt sie die „größte hausgemachte Katastrophe“ des Landes. „Es gibt keine guten Straßen, keine billigen Hotels und nur ein paar Stadien“, sagt eine Ukrainerin, die ungenannt bleiben will. Dafür stecke der Staat sehr viel Geld in Industriestädte wie Donezk, die nach der EM niemanden mehr anlocken würden. Die Bombenanschläge bestätigen nun jene, die die Sicherheit des Landes durch so ein Großereignis gefährdet sahen.

Am Donnerstagabend sitzen die Besucher aus Hamburg wieder im Bus und fahren durch die von Hochhaussiedlungen geprägten Vorstädte zurück zum Flughafen. Noch am Abend ist die 20 Kilometer lange Strecke von Bauarbeitern in orangenen Westen gesäumt, die Bäume einpflanzen oder Straßen ausbessern. Orange steht jetzt für Baumaßnahmen. Kann die Ukraine es in den kommenden sechs Wochen schaffen, zusammen mit Polen ein würdiger und sicherer EM-Gastgeber zu werden? Unbeschwert kann das Fußballfest jedenfalls schon jetzt nicht mehr ausgerichtet werden. (dapd)