Das Harbour-Front endet in der HafenCity und bestätigt den Trend dieses Buchjahres: die Vergangenheitssucht der Gegenwartsliteratur.

Hamburg. Im Kehrwieder-Theater in der Speicherstadt geht es stets sehr stilvoll zu. Manchmal auch mondän: Atmosphärisch erinnert das auf gestern getrimmte Veranstaltungshaus an die Varieté-Theater der Weimarer Republik. Man ist traditionsbewusst in Hamburg. Das Harbour-Front-Literaturfestival hat eine vergleichsweise kleine Tradition, seine dritte Ausgabe ging am Sonnabend mit einer Abschlussgala in nämlichem Theater zu Ende, vor gediegenem Publikum und roten Samtwänden.

Dass es zum Finale eine launige Lesung von literarischen Hamburgensien gab, sollte nicht über den Charakter des Programms hinwegtäuschen. Rückwärtsgewandt ist es nicht. Mochten auch Gustav Peter Wöhler, Markus Boysen und Maria Hartmann liebreizend aus den Texten von Ringelnatz, Heine oder Dehmel rezitieren - zumindest im Hinblick auf aktuelle Bestseller zeigte sich das Festival mehr oder weniger verankert in der Gegenwart. Mit Richard David Precht hatte es den zurzeit populärsten Sachbuchautor für einen Auftritt gewonnen. Außerdem waren Sven Regener, der umtriebige Tourtagebuch- und Blogschreiber, und Amerika-Apokalyptiker Gary Shteyngart zu Gast.

Klar fehlte 2011 ein Publikumsmagnet wie John Irving, der das Literaturfest an der Elbe im Vorjahr mit seiner Lesung veredelte. Illuster war die Besetzung des Programms trotzdem - und im Hinblick auf die deutschsprachige Literatur führte es eindrucksvoll vor, dass die lieber nach hinten als nach vorne schaut. Da war zum Beispiel auch Eugen Ruge, dessen Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" einer der Favoriten auf den Gewinn des Deutschen Buchpreises ist und derzeit Gegenstand aller Literaturgespräche ist. Ruge, der späte Romancier (der Debütant ist 57 Jahre alt) und kluge Chronist, erzählt in seinem "Roman einer Familie" über vier Generationen hinweg vom Aufbau und Fall der DDR.

Es geht mithin um längst Vergangenes, um die Geschichte von Menschen, die sich in der Geschichte eines Landes spiegelt. Das große geschichtliche und gesellschaftliche Panorama, in "Zeiten des abnehmenden Lichts" von einem souveränen und humorvollen Erzähler ins Werk gesetzt, verlangt immer nach historischer Tiefe.

Aber nicht unbedingt nach der Befriedigung einer Vergangenheitssucht, wie sie in anderen Romanen dieses Buchjahres angestrebt wird. Die Retrospektive ist zurzeit einigermaßen en vogue: Das beweist ein weiterer Titel, der für den Buchpreis nominiert ist - Angelika Klüssendorfs "Das Mädchen". Auch wer sich die Autoren anschaut, die sich heuer im Debütantensalon auf dem Festival vorstellten, der darf zu dem Schluss kommen: Es wird ganz schön viel im Früher gewühlt und da meist in der eigenen Familiengeschichte.

Weil diese Absage an die Gegenwart von Debütanten getroffen wird, fragt man sich dann schon, warum jene so schnöde ignoriert wird. Will man nicht etwas Grundlegendes über seine eigene Zeit schreiben im ersten Buch? Anscheinend nicht - Autoren wie Thomas Melle ("Sickster") ausdrücklich ausgenommen. Melle hätte dem Harbour-Front-Festival mit seinem kapitalismus- und zeitgeistkritischen Debüt gutgetan. Gleiches gilt für die großartige Entdeckung von Jan Brandt (wobei sein Debüt "Gegen die Welt" eher die Welt von gestern als die von heute schildert).

Die literarische Suchbewegung des Jahrgangs 2011 will nichts über die Gegenwart sagen; allenfalls etwas über das gegenwärtige Ich, dessen Gewordensein freilich in irgendwelchen düsteren Familiengeheimnissen seinen Ursprung hat. Zum Beispiel in Odile Kennels Roman "Was Ida sagt", er erzählt von der Heimkehr einer in Berlin lebenden Französin in die heimatliche Provinz. Dort erfährt sie - textlich ist das etwas zu waghalsig komponiert - so allerlei darüber, wie das war mit den deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg und den französischen Frauen, die sich mit ihnen einließen. Das Haus der Familie steht auf einem ziemlich wackeligen Fundament, und die Frauen fristen alle ein Dasein, in dem sie mit dem Vergangenem hadern.

In Katharina Eyssens Roman "Alles Verbrecher" ist es eine junge Frau Anfang 20, der die Deutung ihrer Familiengeschichte in die Hände gelegt wird. Die Eltern sind getrennt, die Mutter ist nach Drogensucht und Entziehungskur längst nicht mehr in derselben Stadt. Die Urgroßmutter ist eine schlecht gelaunte Männerhasserin, und vielleicht ist der Schlüssel zu dieser ganzen Misere der Großvater. Der war ein Lebemann mit großem Erfolg bei Frauen: Eyssens Heldin spürt seinem Leben auf einer Reise nach New York nach.

Das ist auch eine Art Bildungsgeschichte, in der man zu sich findet, indem man erstmal nicht nach vorne, sondern zurückgeht. Was sagt das über das eigene Leben aus? Nicht unbedingt, dass man selbstbestimmt darüber verfügen kann. Die Leichen im Familienkeller müssen für irgendetwas gut sein, und manchmal halten sie eben für die eigene Orientierungslosigkeit her.

In Judith Taschlers "Sommer wie Winter" gibt es auch einen Helden, der zu sich selbst finden muss, indem er sich mit den Leben der vorhergehenden Generation beschäftigt. Und in Astrid Rosenfelds Roman "Adams Erbe" klingt wie bei Eyssen das Motiv des Holocausts an: Als dunkler Schatten über der Familiengeschichte eignet er sich hervorragend. Von der rückwärtsgewandten Prosa, die ihre Themen in Geschehnissen findet, die mehr als 50 Jahre her sind, unterscheidet sich zum Beispiel der Zürcher Autor Michel Bozikovic.

Er lässt seinen sehr jungen Protagonisten in den Partisanenkampf ziehen. Der jugoslawische Bürgerkrieg liegt auch schon etwas zurück; trotzdem erscheint uns das Thema aktueller, wenn auch nicht am Puls der Zeit. Bozikovics Debüt wirkt noch etwas unreif - und das ist nicht der Tatsache geschuldet, dass die jüngere Zeitgeschichte noch nicht lange genug liegen konnte, um mit einem entsprechenden historischen Firnis überzogen zu werden.

Und so ist der Roman, der unsere Zeit am treffendsten abbildet, tatsächlich "wach", das mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis ausgezeichnete Debüt des Berliners Albrecht Selge. Der nahm den Preis zum Abschluss vom Preisstifter entgegen. Als Belohnung für einen Berlin-Roman, in dem wir durch unsere Gegenwart mit ihren Konsumlandschaften und virtuellen Interneträumen flanieren; für einen Roman, der seinen Zauber durchaus nicht sofort, dann aber nachhaltig entfaltet.