In privater Atmosphäre legte Olaf Scholz Bezirksamtsleiter Schreiber den Rücktritt nahe – und machte sich im SPD-Kreis Mitte kaum Freunde.

Die Partei gibt, die Partei nimmt. Das galt jahrzehntelang als sozialdemokratische Lebensmaxime. Wenn heute ein Genosse um seinen Posten zittert, muss er ins Rathaus zu Bürgermeister Olaf Scholz, der passenderweise auch Landesvorsitzender der SPD ist. Für Mitte-Bezirksamtsleiter Markus Schreiber war es am Donnerstag um 16 Uhr soweit. Scholz hatte seinen Parteifreund zu einem Gespräch in sein Büro gebeten. Man kann es auch so sagen: Der Bürgermeister zitierte seinen Untergebenen zu sich.

Die Sachlage war schnell erörtert: Am Mittwoch hatte es in der Bürgerschaft Rücktrittsforderungen der Opposition gegen Schreiber gehagelt. Der Bezirksamtsleiter habe die seit langem bekannten Missstände in seinem Jugendamt nicht abgestellt und sei deswegen politisch verantwortlich für den Tod der elfjährigen Chantal. Scholz hatte während der Debatte schweigen müssen und dies auch 90 Minuten lang verbissen getan, weil er mit jedem Wort Schreiber in den Rücken gefallen wäre, wenn er nicht lügen wollte. Denn tatsächlich war ihm längst klar geworden, dass der Bezirksamtsleiter nicht mehr im Amt zu halten war.

Doch jetzt war die Zeit des Handelns gekommen. Eine Zeit lang mochte Scholz darauf gesetzt haben, dass sich in der Bezirksversammlung Mitte eine Mehrheit für die Abwahl von Schreiber findet. Doch die FDP-Abgeordneten vereitelten das. Auch ein langwieriges Dienstenthebungsverfahren mit letztlich offenem Ausgang war keine Lösung. Es blieb also nur der Weg, Schreiber zum Verzicht zu drängen.

Scholz pflegt in solchen Gesprächen nicht viele Worte zu machen. Vorsichtig formuliert, signalisierte er Schreiber, dass sein Verbleiben im Amt auf Grund des politischen und öffentlichen Echos problematisch sei. Andere formulieren drastischer: Abpfiff mit Ansage. Beamtenrechtlich musste Schreiber den ersten Schritt tun und seinen Rücktritt erklären. Daraufhin kann der Senat erst den Bezirksamtsleiter auf seinen Wunsch formal abberufen. Die beiden vereinbarten, dass Schreiber Scholz am Freitag darüber informiert, ob er mit dem Prozedere einverstanden ist.

Fall Chantal - der Rücktritt

Der Abend der Entscheidung in privater Atmosphäre

Nach Schreibers Rücktritt gibt auch Johannes Kahrs sein Amt auf

Danach reiste Scholz zur Vorbereitung der Sitzung des Bundesrates am Freitag nach Berlin. Am späten Abend - Scholz saß in der sogenannten Beck-Runde mit SPD-Amtskollegen beim rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck - kam die Nachricht von Schreiber per SMS. Der Bezirksamtsleiter war zum Rücktritt bereit.

Eines war Schreiber wichtig: Beim Gang vor Kameras und Mikrofone wollte er den Bürgermeister an seiner Seite haben. So kam es. Schreiber betonte, dass er auch deswegen zurücktrete, weil er Schaden vom Amt des Bürgermeisters abwenden wolle. Er selbst hoffte auf eine solidarische, seine Leistung als Bezirksamtsleiter während seiner zehnjährigen Amtszeit würdigende Geste von Scholz. Die blieb aus. Zwar lobte Scholz den Parteifreund für dessen Rücktritts-Entscheidung. Aber er dankte Schreiber dann nur recht schmallippig und knapp für seine Arbeit als Bezirksamtsleiter. Das war nicht mehr als eine Pflichtübung.

Angesichts der großen Aufmerksamkeit für die Schreiber-Demission ging eine zweite Personalie beinahe unter. Der mächtige Chef der SPD Mitte, der Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, erklärte am Freitag im Abendblatt-Interview seinen Rücktritt als Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses. Auch Kahrs war heftig attackiert worden, weil ihm Versäumnisse bei der Aufsicht des Jugendamtes vorgehalten wurden.

Hier geht's zum Interview: Auch Johannes Kahrs verzichtet

Scholz hat sich mit dem erzwungenen Rücktritt von Markus Schreiber keine Freunde in der SPD Mitte gemacht. Präziser: Sein Vorgehen stellt die Solidarität der Mitte-Genossen auf eine harte Probe, zumal Kahrs offensichtlich nicht in die Entscheidung eingebunden oder wenigstens informiert war. Der SPD-Mitte-Chef war eigentlich entschlossen, an seinem Ausschuss-Posten und an Schreiber festzuhalten, der sich wiederum auf eine Mehrheit in der Bezirksversammlung stützte. Aber gegen Scholz, den überragenden Wahlsieger von 2011, der die SPD zurück an die Macht gebracht hat, kommen auch die hartgesottenen Mitte-Genossen derzeit nicht an.

Mit Scholz und Kahrs stehen sich nun stärker als je zuvor zwei Antipoden der Landes-SPD in herzlicher Abneigung gegenüber. Scholz missfällt der Politikstil von Kahrs, ein Netzwerk von Abhängigkeiten zu schaffen, gern auch als "System Kahrs" bezeichnet. Auch Schreibers bisweilen laute, spontane und populistische Wortmeldungen passten dem nüchternen Regierungshandwerker Scholz nicht.

City-Bürgermeister und Schattensenator

Der Bürgermeister und der Bundestagsabgeordnete aus Mitte kennen sich seit Juso-Zeiten. Und schon da standen sie in unterschiedlichen Lagern: Scholz gehörte dem Stamokap-Flügel an, der den Kapitalismus kurz vor dem Ende sah. Kahrs war schon damals Realpolitiker. Ein erstes Zerwürfnis gab es 2004. Nicht zuletzt auf Drängen der Mitte-Genossen mit ihrem Vorsitzenden Kahrs erklärte Scholz seine Bereitschaft, vom Posten des Landesvorsitzenden zurückzutreten. Scholz war zugleich umstrittener Generalsekretär der Bundes-SPD.

Damals wollte das Mitte-Rechts-Lager den heutigen Europa-Abgeordneten Knut Fleckenstein als Landeschef statt des "Linken" Scholz installieren. Zwar war der inhaltliche Gegensatz zwischen den Parteiflügeln längst zurückgetreten, auch Scholz war längst in der Realpolitik angekommen, aber bei Personalfragen zählten und zählen die alten Zugehörigkeiten nach wie vor. Der Plan schlug bekanntlich fehl, weil sich Mathias Petersen in einer Mitgliederbefragung durchsetzte.

Ein möglicher Nachfolger für Schreiber: Andy Grote

Überfälliger Rücktritt

In den vergangenen Jahren hatten sich beide Seiten miteinander eingerichtet: Kahrs holte bei Bundestagswahlen als Direktkandidat im Wahlkreis Mitte herausragende Ergebnisse, führte aber weitgehend ein Eigenleben. Inzwischen verzichtet er darauf, auf der Landesliste zu kandidieren, weil er ohnehin nicht gewählt wird. Aber die Kahrs-SPD war immer solidarisch mit Parteichef Scholz und unterstützte ihn massiv bei der Bürgerschaftswahl.

Ein neuer Riss zwischen Scholz und Kahrs entstand nach dem triumphalen Wahlerfolg der absoluten Mehrheit. Kahrs, der für seine robuste Personalpolitik bekannt ist, drängte Scholz, Markus Schreiber in seinen Senat zu holen. Bekanntlich vergeblich.

Für Kahrs ist die Partei eine solidarische Veranstaltung. Schreiber und Kahrs sind zurückgetreten, um Scholz ein Problem vom Hals zu schaffen und seinen Nimbus als Bürgermeister nicht anzukratzen. Aber Scholz hat eine gewisse Bringschuld, wenn er sich nicht auf Dauer mit der SPD Mitte anlegen will. Kahrs kann sehr unangenehm werden. Deshalb dürfte zumindest klar sein, dass Schreiber eine zweite Chance als Politiker erhält. Im Landesvorstand wird er bleiben. Ein weiteres Entgegenkommen könnte sein, dass Schreiber bei der nächsten Bürgerschaftswahl einen sicheren Listenplatz erhält.

Scholz nimmt, die Partei gibt.

Peter Ulrich Meyer leitet das Ressort Landespolitik des Abendblatts