Der Neuanfang in Hamburg-Mitte erhöht die Chance, Fehler im System abzustellen.

Es ist noch nicht einmal ein Jahr her, da galt er als aussichtsreicher Kandidat für einen Posten im neuen Senat. Jetzt, nur elf Monate nach dem grandiosen Sieg der SPD bei der Bürgerschaftswahl, ist seine politische Karriere beendet - zumindest vorübergehend. Markus Schreiber, Vorstandsmitglied der Landes-SPD, Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte und damit so etwas wie ein City-Bürgermeister, hat am Freitag den Verzicht auf seinen Job verkündet. Er zieht sich zurück und übernimmt so die politische Verantwortung für das Versagen im Fall Chantal. Das kollektive Versagen in der von ihm verantworteten Behörde kostete einem Kind das Leben. Der Schritt Schreibers war überfällig und unvermeidlich im Sinne einer politischen Hygiene.

Schreiber war nicht mehr haltbar - das haben er und sein Mentor Johannes Kahrs, Chef der selbstbewussten SPD-Mitte, so ziemlich als Letzte erkannt. Am Ende war es Bürgermeister Olaf Scholz, der Schreiber zum Rückzug gedrängt hat. Zu groß war aus dessen Sicht die Gefahr, dass aus dem Fall Chantal der Fall Scholz werden könnte, ein Fall, in dem es um die Handlungsfähigkeit des Senats gegangen wäre; zu groß war das Risiko, dass der mühsam aufgebaute Nimbus in Gefahr geraten könnte, unter Scholz werde Hamburg ordentlich regiert.

Wer Führung bestellt, dem wird Führung geliefert, hatte der Bürgermeister als Leitmotiv seines Tuns ausgegeben. Schreiber hat alles andere als "ordentlich regiert", er hat eine Kette von Peinlichkeiten und Fehlern in der Aufarbeitung zweier Kindstode abgeliefert, es an Empathie fehlen lassen und nicht überzeugen können, dass er seine Verwaltung im Griff hat. So hielt er über Jahre an einer Jugendamtsleiterin fest, die er für unfähig hielt. Die Begründung, er habe sie nicht loswerden können, ist ein Armutszeugnis. Durch diese Fehlerkette wurde Schreiber für Scholz zum persönlichen Risiko, ohne dass man ihm Mitschuld am Tod des Kindes nachweisen könnte. Und so hat Scholz Führung geliefert.

Mit ihren Rücktritten machen Schreiber und Kahrs (als Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses) den Weg frei für einen kompletten Neuanfang, zumal auch das Jugendamt in Mitte einen neuen Chef bekommen wird. Doch damit darf der Veränderungsprozess im schwierigsten Hamburger Bezirk nicht enden. Wichtiger als der personelle Neuanfang an der Spitze ist es, die Fehler im System zu erkennen. Das zeigt schon der Fall Lara-Mia. Die Verwaltungsstrukturen nicht ausreichend überprüft und Schwachstellen nicht ermittelt zu haben - das ist der große Fehler des Markus Schreiber und der Grund, warum sein Rücktritt überfällig war.

Lara-Mia ist 2009 völlig abgemagert gestorben. Die Betroffenheit war groß, Elan und Bereitschaft zur Veränderung auch. Aber immer nur wurde bei Schwachstellenanalysen darauf geachtet, dass sich ein solcher Fall nicht wiederholt. Der Fall Chantal war aber anders. Hier wurde nicht weg-, sondern hingesehen von den Betreuern. Doch all die Sozialarbeiter haben die Gefahr nicht erkannt. Oder sie wollten es nicht.

Lara-Mia und Chantal - die Fälle haben mehrere Parallelen. Beide Mädchen waren in der Obhut des Jugendamtes Wilhelmsburg. Beide Fälle galten zuvor als unvorstellbar. Der personelle Neuanfang bietet die Chance, die Strukturen komplett zu überprüfen. Wie viele "Altlasten" gibt es? Wie viele Kinder leben noch in desaströsen Verhältnissen? Bei drogenabhängigen Eltern oder "milieu- und wohnortnah" in randständigen Pflegefamilien? Die Zäsur bietet die Chance, Wilhelmsburg zur Modellregion zu machen, in der die besten Sozialarbeiter und erfahrensten Verwaltungsfachleute der Stadt zusammengezogen werden, um in einem zeitlich befristeten Projekt das Viertel zum Vorbild für den Umgang mit Kindern zu machen.