Wilhelmsburgs oberste Polizisten sagen, das größte Problem des Stadtteils sei die Stigmatisierung

Der Polizeidirektor Stefan Schneider (49) und der Erste Kriminalhauptkommissar Wolfgang Benz (45) leiten das Polizeikommissariat 44 in Wilhelmsburg. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt sprechen sie über die Kriminalität auf den Elbinseln.

Hamburger Abendblatt:

Wie gefährlich ist es um 22 Uhr über den Berta-Kröger-Platz in Wilhelmsburg-Mitte zu gehen?

Stefan Schneider:

Es ist den ganzen Tag ungefährlich über den Berta-Kröger-Platz zu gehen.

Wie sieht es um 23 Uhr am Karl-Arnold-Ring in Kirchdorf-Süd aus?

Auch dort ist es nicht gefährlich.

Und wie ist die Lage um Mitternacht am Slomanstieg auf der Veddel?

Ruhig und ungefährlich.

Sie haben im vergangenen Jahr auf einer Veranstaltung gesagt, Wilhelmsburg sei, was die Kriminalität angeht, ein unproblematischer Stadtteil...

Ganz genau. Was die Kriminalitätsbelastung durch die Masse und die Qualität von Straftaten angeht, ist Wilhelmsburg weiterhin völlig unproblematisch und nicht anders zu sehen als andere Stadtteile Hamburgs. Auch die Veddel ist völlig unauffällig.

2009 gab es 271 Fälle gefährlicher und schwerer Körperverletzung auf den Elbinseln. Wilhelmsburg nimmt damit Platz 3 unter den Stadtteilen ein...

Wolfgang Benz:

Das ist eine Steigerung um 24 Fälle gegenüber 2008. 271 Fälle im Jahr bedeuten nicht mal einen Fall pro Tag - ein Problem hätten wir bei 15 bis 20 Fällen pro Tag. Bemerkenswert ist eine Aufklärungsquote von über 80 Prozent.

Schneider:

Wenn von gefährlicher und schwerer Körperverletzung gesprochen wird, denken viele Bürger, dass da etwas Dramatisches, Gefährliches passiert ist. Das ist aber in weiten Bereichen nicht so. Schwere Körperverletzungen haben wir nur ganz wenige. Die Zahlen erfassen auch zehn Jahre alte Schüler, die sich in der Schule mit einem Stock prügeln. Und sie erfassen den Streit zwischen Eheleuten, bei dem sie mit einem Regenschirm auf ihn einschlägt.

Benz:

Etwa die Hälfte der 271 Fälle betrifft häusliche Gewalt. Das betrifft nicht nur Mann/Frau, sondern häufig Vater/Sohn, Bruder/Bruder oder Auseinandersetzungen im Verwandtenkreis. Vor allem in Familien mit Migrationshintergrund verzeichnen wir mehr häusliche Gewalt. Die Ursache liegt nicht darin, dass mehr Gewalt ausgeübt wird, sondern dass die Anzeigebereitschaft der Opfer, in der Regel Frauen, gestiegen ist.

Ist es denn gar nicht gefährlich, auf den Elbinseln spazieren zu gehen?

Schneider:

Die Bürger auf den Elbinseln laufen grundsätzlich nicht Gefahr, auf offener Straße von irgendwelchen Menschen angegriffen, verletzt oder beraubt zu werden. Körperverletzungen gibt es öfter unter Betrunkenen, etwa Schlägereien in Kneipen nach erheblichen Alkoholkonsum. Viele Wilhelmsburger haben leider kein großes verbales Konfliktlösungspotenzial. Hier sitzt die Hand etwas lockerer. Unsere 130 Polizisten sind immer öfter als Friedensrichter und Streitschlichter unterwegs. Leider werden auch Schulhofschlägereien zwischen zwei Achtjährigen ohne jegliche Verletzungen zur Anzeige gebracht. Eine Lehrerin hat sogar einmal drei Schüler wegen Diebstahls angezeigt, die drei Bonbons aus ihrem Weingummigefäß entwendet hatten.

Wie hoch ist der Anteil der Jugendgewalt in Wilhelmsburg und Veddel?

Das wird statistisch nicht separat erfasst.

Benz:

Wer haben derzeit keine speziellen Brennpunkte, wo sich Jugendgruppen oder -banden aufhalten, wie wir es früher mal hatten. Wir haben eine ganz normale Jugendlage - ruhig und unauffällig. Unterm Strich haben wir nur eine geringe Zahl an jugendtypischen Straftaten wie Abziehdelikten.

Schneider:

Im Schnitt verzeichnen wir pro Woche etwa zwei Raubtaten. 2009 waren es 151 Taten - darunter 69 Raube auf Straßen, Wegen und Plätzen und zwölf Handtaschenraube. Bei weniger als einem Drittel der Raube wurde eine Waffe vorgehalten. Das ist nicht wirklich dramatisch für einen sozial schwachen Stadtteil.

Benz:

Die Raube sind durchgängig weder sonderlich brutal, noch sonderlich ausgefeilt geplant und perfide. Opfer, die offensichtlich verletzt sind, sind die absolute Ausnahme.

In Wilhelmsburg und Veddel haben Detektive vergangenes Jahr 411 Ladendiebe erwischt. Die Dunkelziffer beim Ladendiebstahl ist erheblich höher - die Detektive erwischen nur einen kleinen Prozentsatz der Täter...

Schneider:

Wir haben mehr Ladendiebstähle als in Blankenese, weil die Menschen hier weniger Geld haben, sich regulär etwas zu kaufen.

Bei Wohnungseinbrüchen liegt Wilhelmsburg mit 186 Fällen auf Platz 4...

Benz:

Wilhelmsburg ist aufgrund seiner Struktur alles andere als ein klassisches Einbruchsgebiet. Weil hier viele Leute ohne Vermögen leben, ist Wilhelmsburg für professionelle Einbrecher nicht sonderlich attraktiv. Die Taten werden in Wilhelmsburg meist sehr schlicht begangen: Schlecht gesicherte Türen werden eingetreten oder aufgedrückt. Das Stehlgut ist meist gering.

Schneider:

Zu den Einbrüchen zählen auch versuchte Taten. Es handelt sich oft um dilettantische Einbruchsversuche von Personen, die mal kurz beim Kumpel oder der Ex-Freundin in die Wohnung hinein wollen, das aber häufig nicht schaffen. Die Aufklärungsrate bei Einbrüchen liegt leider nur bei 10,3 Prozent. Wenn die Beamten die Nachbarn fragen, "ist ihnen jemand aufgefallen?", bekommen sie in der Regel zu hören, "ich habe nichts gesehen" oder "ich kann Sie nicht verstehen".

Wie sieht es denn in den Eigenheimgebieten in Kirchdorf aus?

Benz:

Jetzt Gott sei Dank wieder ruhig. Wir hatten dort im Frühjahr 2009 eine Fallhäufung. Unsere Ermittlungen hatten zuerst keinen Erfolg. Dann haben wir ein Fahrzeug mit belgischen Kennzeichen angehalten. Darin waren zwei 15 und 16 Jahre alte Mädchen einer mobilen ethnischen Minderheit aus Südosteuropa, die das Fahrzeug auch bewegten. Die Mädchen waren als Einbrecherinnen bekannt. Danach hat diese Serie schlagartig aufgehört.

Wie sieht es mit Autoaufbrüchen aus?

Wir hatten 2008 knapp 400 Taten und gut 500 vergangenes Jahr. Die Aufklärungsquote liegt im niederen einstelligen Bereich. Zum einen werden Navis gestohlen. Aber es werden auch Scheiben eingeschlagen, um zu sehen, ob was da ist: Da werden auch mal eine alte Sonnenbrille gestohlen oder zwei Packungen Zigaretten. Das ist teilweise klassische Armutskriminalität wie bei der Vielzahl der Laubenaufbrüche, wo nur drei Dosen Grünkohl wegkommen.

Kriminalität in Wilhelmsburg: Ist der Ruf schlechter als die Lage?

Das Bild eines kriminalitätsbelasteten Stadtteils lässt sich durch nichts belegen und durch die Zahlen sogar widerlegen.

Schneider:

Das ist diese alte Stigmatisierung von Wilhelmsburg: Die Elbinsel ist schlimm, ist furchtbar, ist kriminell. Wenn man sagt, man ist in Wilhelmsburg tätig, bekommt man immer noch zu hören, "Oh Gott, wie schlimm!". Dieses Bild ist offensichtlich nicht wegzubekommen.

Woher kommt dieses schlechte Bild?

Was man hier tagtäglich in weiten Bereichen auf der Straße sieht, ist nicht schön und verursacht dem Normalbürger nicht immer ein gutes Gefühl. Weil es nicht unsere Welt ist, sondern eine andere Welt. Eine Welt, die sich aus ethnischen Minderheiten und Menschen mit Migrationshintergrund zusammensetzt. Im Reiherstiegviertel ist eine Parallelgesellschaft entstanden. Diese Menschen verhalten sich anders als deutsche Bürger in Blankenese, Flottbek oder Volksdorf - dort stehen die Menschen nicht auf der Straße herum. Dadurch entsteht ein Bild von Unsicherheit und Gefährlichkeit, das durch Zahlen nicht zu belegen ist.

Benz:

Beispiel S-Bahnhof Wilhelmsburg. Da ist es zum Teil schmutzig. Da krakeelen Jugendliche herum, da wird auf den Boden gespuckt, da fühlen Sie sich wie auch im Bus nicht wohl.

Schneider:

Aber es passiert ihnen ja nichts. Es ist nicht schön, aber es passiert ihnen in der Regel nichts.

Was meinen Sie damit, "es ist nicht schön?"

Gehen Sie mal über die Harburger Chaussee, durch einige Teile des Reiherstiegviertel, zu den S-Bahnhöfen Veddel und Wilhelmsburg oder zum Berta-Kröger-Platz. Das ist nicht schön da. Schön ist es auf der Mönckebergstraße oder in Eppendorf. Da ist ein nettes Ambiente. Das haben Sie hier alles nicht. Es verfällt zunehmend, es ist dreckig, es ist laut, es ist anders. Ich definiere mich mal als Normalbürger: Das alles impliziert für mich nicht das Gefühl von schön. Und ich glaube die Masse der normalen deutschen Bürger findet das auch nicht schön. Und dieses Gefühl sagt: Äh, Wilhelmsburg - schmutzig, schmuddelig, leicht unsicher und gefährlich. Schmutzig und schmuddelig stimmt in vielen Bereichen - leicht unsicher und gefährlich stimmt nicht. Aber in den Köpfen wird diese Analogie leicht hergestellt.

Die Stadt lockt Studenten auf die Elbinseln, igs und IBA wollen den Stadtteil aufwerten...

Man muss zwischen Absichtserklärungen und Ergebnissen unterscheiden, und die Ergebnisse sind so noch nicht wahrnehmbar. Der "Sprung über die Elbe" findet leider oft noch in die andere Richtung statt: Leute verlassen den Stadtteil, weil sie es hier nicht mehr ertragen.

Benz:

Dabei gibt es auch landschaftlich wunderschöne Ecken auf der Elbinsel. Wilhelmsburg war vor 30 Jahren ein klassischer, gemütlicher Arbeiterstadtteil mit vielen kleinen Fachgeschäften. Heute gibt es im Reiherstiegviertel kaum noch deutsche Geschäfte außer Lidl und Aldi. Wir sind sehr gespannt, wie sich die Struktur im so genannten "Weltquartier" entwickeln wird. Die Weimarer Straße mit dem Weimarer Platz könnte ein Juwel werden und könnte Menschen hierher locken, die im Moment noch einen großen Bogen um Wilhelmsburg machen.

Manche Kritiker beobachten schon heute eine schleichende Gentrifizierung im Reiherstiegviertel...

Schneider:

Die könnte in zehn, zwanzig Jahren stattfinden, wenn die Universität auf den Kleinen Grasbrook in den Hafen käme. Die Elbinseln wären dann interessante Wohnorte für Studenten und Uni-Mitarbeiter.

Die Menschen aus 130 Nationen scheinen sich doch wohl zu fühlen auf den Elbinseln...

Die leben ja hier in ihren Enklaven. Die sind unter sich, die haben ihre eigenen Läden, ihre eigenen Anwälte, ihre eigenen Ärzte. Die Türken im Reiherstiegviertel leben hier fast wie in Istanbul, die haben sich hier ihre eigene Parallelgesellschaft geschaffen. Wir haben immer mehr Menschen, auch Kinder, die kaum Deutsch sprechen. Sie treffen junge Mütter, die sprechen gar kein Deutsch. Wo ist da die Integration?

Benz:

Es ist schon so, dass das hier eine eigene Welt ist. Kirchdorf, Kirchdorf-Süd, Reiherstiegviertel, Veddel: Es gibt auf dieser Insel kleine Inseln. Es gibt keinen homogenen, in sich geschlossenen Stadtteil.