Der schreckliche Unfall an der Kreuzung Eppendorfer Baum/ Lehmweg mit vier Toten hat einen profanen Ort in eine Gedenkstätte verwandelt.

Eppendorf. Die Trauerfeier findet von morgens bis abends statt, jeden Tag, unmittelbar am Ort des Geschehens. Niemand hat sie organisiert, sie organisiert sich selbst. Auch am Tag fünf nach dem Verkehrsunfall mit vier Todesopfern auf dem Bürgersteig an der Ecke Eppendorfer Baum/Lehmweg bleiben Menschen hier stehen, kommen miteinander ins Gespräch oder verweilen still.

Seit Sonnabendnachmittag wächst hier eine Gedenkstätte, ein Artefakt auf Zeit aus Blumen, Kerzen, Zetteln, Briefen, Dokumenten, Fotos. Es ist ein Ritualplatz ohne Regeln und ohne Zeremonienmeister. Wer hier steht und die Schwingung aufnimmt, spürt: Dieser Platz erfüllt momentan ein tiefes, fast archaisches Bedürfnis danach, öffentlich traurig sein zu dürfen.

Genau genommen besteht dieses von Passanten, Anwohnern, Freunden, Schulkindern und Weggefährten gestaltete Mahnmal aus zwei Teilen. Am Boden liegt in einem Kreis aus Blumen ein Foto von Günter Amendt, schön gerahmt und hinter Glas. Die ersten Blumen sind schon welk. Sie bedecken den Ort, an dem der Fiat Punto des Unfallrasers Amendts Leben auslöschte.

Zwei Meter weiter haben die Trauernden ein von vier im Boden festgeschraubten Bänken umsäumtes Eternitbeet in einen öffentlichen Andachtsraum verwandelt. Im Beet steckt ein dürres Bäumchen. Von einem abgebrochenen Zweig, der sich in den Ästen verfangen hat, schaukelt ein Kreuz aus Glas im Wind. Oben drüber hängt ein verwaistes Nest aus dem Vorjahr. Am Stamm ist das Gedicht eines Schülers für seine getötete Lehrerin Sibylle Mues festgepinnt. Die Kabarettbühne Polittbüro hat zwei Rosen in eine Weißbierflasche gesteckt und einen letzten Gruß an Dietmar Mues dazugeschrieben: "Du warst einer von uns." Viele Fotos des Schauspielers liegen zwischen den Blumen. Sie zeigen sein unendlich liebenswürdiges Räuber-Hotzenplotz-Gesicht, mal rasiert, mal mit wildem Schnauzer, mal mit Siebentagebart.

Das kollektiv improvisierte Chaos aus Osterglocken, Hyazinthen, Rosen und Tulpen, der große Strauß weißer Calla, dazwischen Zettel und Briefe - es hätte Dietmar Mues sehr gefallen, diesem großen Freund und Kenner von Blumen, von Worten und von Jazz.

Inmitten des Stroms rund um all die Geschäfte hier wird der profane Platz, wo sonst die rauchende Kundschaft des Back-Werks ihren Kaffee trinkt, zum Ort der Einkehr, zum Schutzraum für Gefühle. In der oft wortlos bleibenden Verbundenheit zwischen den zufällig zusammentreffenden Menschen ahnt man, dass das von diesem sinnlosen, vierfachen Todesfall so angerührte Herz der Stadt sich auch Luft macht von all der Trauer und Verzweiflung über die Nachrichten aus Japan. Viele verdrängen, so gut es geht, weil sonst gar nichts mehr gehen würde. Ein Unglück in der Nachbarschaft hebt plötzlich das Wehr und lässt den ungeweinten Tränen ihren Lauf.