Überlebende des Amoklaufs von Lörrach schildern die Schützin als “cool“. Auslöser der Bluttat mit vier Toten war ein Beziehungsdrama.

Hamburg. Gelassen, ja "cool" sei die Frau auf ihn zugekommen. Rote Jacke, schwarze Hose, ein Handtäschchen am linken Arm. Und in der rechten, herunterhängenden Hand baumelte lässig eine Pistole. Die Szene muss Ernst Barth bizarr erschienen sein, wie aus einem Film. Doch das, worüber Barth berichtet, geschah in einer idyllischen deutschen Kreisstadt, an einem Sonntagabend, auf der Straße vor einem katholischen Krankenhaus.

Barth habe gerufen: "Lassen Sie die Waffe fallen!", zwei- oder dreimal. "Doch die Frau sah mich an, hob die Pistole und zielte mitten in mein Gesicht. Dann drückte sie ab." Die Kugel verfehlte ihr Ziel, sie schlug ein paar Zentimeter höher durch Barths Kopfhaut oberhalb der Stirn.

Jetzt, am Montag zur Mittagsstunde, steht der 69-Jährige auf der Straße direkt an dem Platz, wo das alles am Abend zuvor geschah, und sucht das Projektil. "Das hätte ich gern als Trophäe", sagt er. Aber es hat wenig Sinn, in dem Chaos danach zu suchen. Vor dem Eingang des Lörracher St.-Elisabethen-Krankenhauses ist alles abgesperrt, überall steht Polizei. Dort, wo 18 Stunden zuvor die 41-jährige Rechtsanwältin Sabine R. Amok gelaufen war . Die Spurensicherer sind schon abgezogen, Barth betrachtet zwei Dutzend Kreise, die sie auf den Boden gemalt haben: die Lage von Blutspritzern. Sein Blut.

Barth war am Sonntagabend zufällig in der Gegend, als Gast eines Grillfestes. Der stattliche Rentner in Jeans und blauem Freizeithemd wirkt trotz einer fast schlaflosen Nacht im Krankenhaus gefasst. Er scherzt mit den Reportern, als er die schlohweißen Haare vor der Stirn hochhebt und seine Wunde vorführt. "Die Dame konnte wohl schießen. Aber doch nicht so gut. Sonst hätten Sie jetzt kein Interview." Er hat wohl noch nicht recht realisiert, wie knapp er dem Tod entkommen ist. Das Geschoss, das seine Kopfhaut streifte, kam zwar aus einer Kleinkaliberwaffe, "vermutlich Blei", sagt Barth. Aber die Frau hatte aus nächster Nähe gefeuert. Und sie war Sportschützin.

Lörrach, ein gepflegtes Kreisstädtchen ganz im Südwesten der Republik, nur Minuten von der Schweizer Grenze entfernt, ist fassungslos über diese Tat, die eher einem "Tatort"-Drehbuch zu entstammen scheint als der Realität.

DISKUSSION UM VERSCHÄRFUNG DES WAFFENRECHTS

Da stürzt also an einem lauen, ruhigen Sonntagabend gegen 18 Uhr eine Frau aus einem Haus, in dem es gerade zu einer schweren Explosion gekommen ist. Später werden dort, wo es jetzt heftig brennt, zwei Leichen gefunden werden, Sabine R.s getrennt lebender Ehemann und ihr fünfjähriger Sohn. Vor dem Haus, auch das wird Ernst Barth später berichten, befindet sich zufällig der Pastor der Lörracher Baptistengemeinde, Jürgen Exner. Er fordert die Frau auf, sofort ihre Waffe fallen zu lassen. Doch wie kurz darauf auch bei Ernst Barth hebt die Amokschützin in der roten Jacke die Pistole, Kaliber 22, zielt auf den Geistlichen und drückt ab. Weil sich der Pastor wegdreht, erwischt ihn die Kugel im Rücken. Später wird Exner wie Barth im städtischen Krankenhaus behandelt, die beiden schlafen im selben Zimmer. So erfährt der Rentner, dass auch der Pfarrer Glück im Unglück hatte: Die Kugel rutschte unter der Haut durch, statt tief einzudringen.

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Die Frau, eine Anwältin, die in dem brennenden Haus ihre Kanzlei hatte, geht derweil rund 200 Meter die Straße entlang. Sie steuert Richtung Krankenhauspforte. Warum sie das tut und ob sie in dem von katholischen Ordensschwestern betriebenen St. Elisabethen eine bestimmte Person sucht, wird für die Ermittler zur großen, ungelösten Frage dieses Dramas werden. Klar ist nur, dass die Schützin, die Nachbarn als verbittert und unzugänglich beschreiben, mehrere Fluchtwege zur Wahl hatte. Doch sie will ins Krankenhaus, obwohl sie sogar warten muss, bis ihr die Ordensschwester mit einem Summer die Tür öffnet. In Lörrach heißt es, die Frau habe auch auf die Schwester geschossen, doch diese habe sich geistesgegenwärtig fallen lassen. Eine Bestätigung dafür gibt es zunächst nicht.

Die Amokläuferin hält sich rechts und läuft die Treppe hinauf in den ersten Stock, in die Gynäkologie. Ob das Absicht war, weiß niemand. Bekannt ist aber, dass sie 2004 in diesem Krankenhaus eine Fehlgeburt hatte. Ob es einen Zusammenhang mit der Tat gab?

Die Polizei ist zu diesem Zeitpunkt längst informiert und rückt mit mehreren Fahrzeugen an. Die Männer warten nicht, bis das in Göppingen stationierte Sondereinsatzkommando des Landes Baden-Württemberg eintrifft. Göppingen liegt 200 Kilometer entfernt, so viel Zeit bleibt nicht. Sofort eingreifen, lautet die Devise spätestens seit dem Amoklauf von Winnenden. Nur so lassen sich Amoktäter, die in kurzer Zeit viele Menschen umbringen wollen, stoppen. Dafür, sagt der Lörracher Polizeisprecher Dietmar Ernst, werde selbst in einem beschaulichen Städtchen wie Lörrach trainiert. Das Konzept geht auf: Von der Explosion bis zum letzten Schuss vergehen nicht mal 40 Minuten. Und doch gibt es am Ende vier Tote und 18 Verletzte. Und bei Sabine R. findet man 300 Schuss Munition.

Drei mit Schusswesten gesicherte Polizisten stürzen in die Frauenabteilung und sehen einen Mann blutüberströmt auf dem Flur liegen, berichtet Polizeisprecher Ernst. Doch als sie sich nähern wollen, geraten sie selbst unter Beschuss. Die 41-Jährige hat sich in einer Nische versteckt und zielt auf die Beamten. Zwei weitere Teams, darunter Frauen, nähern sich von der anderen Seite. Beim Schusswechsel stirbt die Amokläuferin schließlich.

"Beziehungsdrama", dieses Wort macht die Runde. Der getrennt lebende Ehemann und der fünfjährige Sohn wurden offenbar getötet, bevor die Frau das Feuer legte. Nachbarn mutmaßen, es habe Streit um das Sorgerecht gegeben, doch bis die wahren Gründe feststehen, werden mühsame Ermittlungen nötig sein. Die Frau habe den Jungen nur am Wochenende gehabt, heißt es, gelebt habe er beim Vater. Der wollte das Kind wohl gerade bei der Mutter abholen. So schrecklich das indes sein mag, solche Familientragödien geschehen immer wieder. Dass anschließend jedoch der Täter wie ein kaltblütiger Killer durch die Straßen marschiert, hat eine andere Qualität.

"Ein Amoklauf in einem Krankenhaus: Das ist eine neue Dimension", schüttelte Lörrachs Landrat Walter Schneider (CDU) am Montag ungläubig den Kopf. Auch wieso die Frau den 56-jährigen Pfleger mit einem Messer angegriffen hat, wieso sie Feuer legte in ihrer Kanzlei und die Evakuierung von zwei Dutzend Nachbarn erzwang: alles völlig offen.

"Meine erste Reaktion war: nicht schon wieder", sagte Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) auf die Frage, was er gedacht habe, als er von der Polizei informiert wurde. Gerade jetzt, seit einer Woche, steht in Stuttgart der Vater des Todesschützen von Winnenden vor Gericht. Seine Sportwaffen waren es, mit denen Tim K. um sich geschossen hatte. Nun wieder ein Amoklauf in Baden-Württemberg, wieder eine Sportwaffe.

Ob er bereue, sich der Frau in den Weg gestellt zu haben, wird Ernst Barth derweil in Lörrach gefragt. "Nein", sagt er fast erstaunt. "Vielleicht wurden damit ja andere Menschen gewarnt." Und doch reibt er bei diesen Worten nachdenklich seinen Handrücken. Dort klebt noch ein Pflaster - von der Infusion, die ihm der Notarzt 18 Stunden zuvor gelegt hatte.