Wolfram Weiße, Direktor der Akademie für Weltreligionen, setzt sich für den Dialog zwischen den unterschiedlichen Glaubensrichtungen ein.

Hamburg. Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die etwas Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Den Anfang der Abendblatt-Serie machte Altbürgermeister Henning Voscherau. Heute in der 22. Folge: Wolfram Weiße

Wenn man einen Platz beschreiben sollte, an dem sich Wolfram Weiße so richtig wohlfühlt, dann würde der Platz zwischen allen Stühlen bestimmt dazugehören. Diese Verortung zieht sich durch das Leben des Direktors der Akademie der Weltreligionen an der Universität Hamburg wie ein roter Faden. Denn wozu dienen eigene Standpunkte, von denen aus man sich nicht neugierig umschaut, was es noch so alles gibt und wie es die anderen damit halten?

Geboren im Mai 1945 in Frankfurt am Main, kam er bald mit seinen Eltern nach Hamburg, sein Vater konnte dort als Polizist arbeiten. Er hätte den Sohn gern Jura studieren sehen, er selbst hatte Sinologie im Kopf, etwas Besonderes sollte es schon sein. Dieses Besondere wurde die Theologie - eine Überraschung, denn er stamme, sagt er, "aus einer Familie, die für Hamburg typisch war: Man war in der Kirche, aber man ist nicht unbedingt hingegangen." Zwar nahm ihn der Großvater sonntags an die Hand, aber der Gottesdienst war anfangs eines der Sonntagsrituale wie der Braten danach. Später erlebte er die Pastoren in seiner Kirche als sehr offen und kritisch. Sie gaben Jugendlichen den Raum, Meinungen zu Themen zu entwickeln und in Dialog-Gottesdiensten neue Formen der Auseinandersetzung mit der Bibel auszuprobieren. Diese Auseinandersetzung wurde am Ende zur persönlichen Form des Glaubens: Texte wie die "Bergpredigt" mit den Zusagen an die Armen, mit dem Gebot der Feindesliebe oder der Ausspruch, dass man nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen kann, haben ihn geprägt.

"Es war eine kritische Frömmigkeit", sagt Weiße heute. "Eine mit vielen Fragen und Widersprüchlichkeiten", die er dann in seinen Studienplan einbaute - die Theologie realitätsnah flankiert von Geschichte, Sozialwissenschaften und Erziehungswissenschaften. 1965, zu einem Zeitpunkt also, als an den Universitäten die gesellschaftlichen und politischen Fragen nach vorn drängten. Für Weiße waren die Verbindungen zwischen den Fächern das Interessante. Weil dort immer wieder nach dem Nutzen des Glaubens in der Welt gefragt wurde. Er geht keinen der bequemen Wege - alles lammfromm zu akzeptieren oder alles glattweg abzulehnen; er hält die Widersprüche aus und versucht, sie produktiv zu machen. Im Theologiestudium stehen die scharfen und textkritischen Fragen im Vordergrund, viele seiner Kommilitonen kommen in eine Glaubenskrise, wenn sie die Bibel so lesen. In der Theologin Dorothee Sölle findet er eine verwandte Denkerin - fromm sein und sehr kritisch. Das wird seine Form des Glaubens: "Man fühlt sich aufgehoben, geborgen und getragen, aber man schläft nicht dabei ein. Man wird wach, man schaut sich das Mitmenschliche an, geht auf andere zu."

Vieles, was hinterher wie ein gerader Weg aussieht, hängt biografisch von Zufällen ab. Er studiert auch in Mainz und Montpellier. Aus einem studentischen Streik wächst die Beschäftigung mit der Rolle von Religion und Kirchen in der Dritten Welt. Man gründet die "Entwicklungspolitische Korrespondenz", die es 25 Jahre lang geben wird, liest Karl Marx und Autoren aus den armen Ländern, fährt mit dem VW-Bus über Afghanistan bis nach Indien, um festzustellen, dass diesseits der linken Theorien den Armen dort erst mal das schlichte Überleben wichtig ist. Dieser Praxisschock sitzt tief.

Noch auf dieser Reise, 1970, liest Weiße in einer Zeitung, der Ökumenische Rat der Kirchen unterstütze jetzt Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt in humanitären Angelegenheiten. Zurück in Hamburg, arbeitet er über die Vorgeschichte des Anti-Rassismus-Beschlusses, er fährt nach Südafrika, lernt dort spätere Protagonisten der Anti-Apartheid-Bewegung kennen. Arbeitet wissenschaftlich und journalistisch, für das "Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt", für den NDR. Der Elfenbeinturm ist für ihn keine Traum-Immobilie.

Als Promotionsstudent erlebt er die Schwarzen in Soweto, ihre Chöre, sieht, welche Kraft ihnen aus dem Glauben zuwächst nach ihren Demonstrationen. "Die Schwarzen lasen die Bibel als Erklärung dafür, dass sie in dem Zustand, in dem sie waren, gar nicht bleiben dürfen - die haben die Befreiungsbotschaft der Bibel auf ihr Leben übertragen. Und ich lernte: Man kann die Bibel auch unmittelbar auf das Leben beziehen, wo sie den Menschen Hoffnung gibt." Das ist ein neuer Blick auf die eigene Religion.

Südafrika nimmt ihn gefangen, immer wieder reist er ins Land. Insgesamt verbringt er dort an die zwei Jahre seines Lebens. Er lernt - wie auch in Montpellier - Vertreter anderer Religionen kennen und kommt immer näher an sein heutiges Arbeitsfeld: die Frage, ob und wie der Dialog zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Überzeugungen möglich werden kann.

Eine Zwischenstation ist die Tätigkeit als Lehrer am damaligen Gymnasium Hartzloh in Barmbek (heute Margarethe-Rothe-Gymnasium). "Dort habe ich sehr viel über die soziale Wirklichkeit in unserer Stadt gelernt."

Doch die Kontaktstellen zwischen den Religionen lassen ihn nicht los; er wechselt an die Hochschule, lehrt in Hamburg, wird 1992 Professor für Religionspädagogik und ökumenische Theologie an der Universität Hamburg, wo er sich mit den Problemen einer immer multikultureller werdenden Gesellschaft auseinandersetzt. Die Einwanderer und ihre Kinder setzen den interreligiösen Dialog de facto auf die Tagesordnung.

In Hamburg, darauf ist Wolfram Weiße stolz, wird der Religionsunterricht an den Schulen zwar von der evangelischen Kirche verantwortet, es ist aber ein Unterricht, an dem seit den 70er-Jahren zunehmend Schüler mit anderem religiösen Hintergrund teilnehmen. Deshalb wurde er für sie geöffnet, bei Lehrplänen und Unterrichtsplänen gibt es die Mitsprache von Experten anderer Religionen. "Die Erfahrungen damit sind so gut, dass viele Muslime gar nicht möchten, dass die Kinder im Religionsunterricht getrennt werden, denn die gemeinsame Erfahrung und der Austausch sind ihnen wichtiger als die Trennung." Weiße ist stolz darauf, dass der Dachverband der Muslime das Angebot von Ole von Beust ablehnte, einen getrennten Religionsunterricht zu etablieren.

Es ist ein weiter Weg von den Kreuzzügen bis zum gelebten Miteinander im Hamburg von heute. Einer, auf dem Toleranz nicht selten ein Fremdwort war. "Das kann man wohl sagen", meint Weiße. Im Dialog gibt es keine Erfolgsgarantie, dafür mal schwierige und weniger schwierige Phasen. Vielleicht ist das Geheimnis des verständigen Miteinander dieses: "Jeder muss auch den eigenen Hintergrund sehen, die eigene Geschichte akzeptieren und sich von den Schattenseiten bewusst emanzipieren." Dann kann man sogar auch über Fundamentalismus oder Terrorismus diskutieren.

Solche Bescheidenheit war in den vergangenen 800 Jahren nicht eben die Stärke der christlichen Kirchen. Und die Frage muss erlaubt sein, ob nicht jede Religion, jeder Glaube im Kern einen Absolutheitsanspruch besitzt, der die anderen ausschließt. Da kommt Wolfram Weiße erst richtig in Fahrt: "Der Unterschied ist doch: Mein persönlicher Glaube kann nicht relativiert gelebt werden. Wenn ich bete, dann wende ich mich ohne Wenn und Aber zu dem Gott, an den ich glaube. Gegenüber anderen Menschen aber sind Absolutheitsansprüche fehl am Platz, alle Religionen haben sich ja immer im Zusammenhang mit anderen Religionen entwickelt; das Christentum wäre ohne das Judentum nicht denkbar, der Islam nicht ohne das Christentum und das Judentum. Es gibt diese Herkunftsgeschichte und dann auch die vielen gemeinsamen Themen - darüber zu reden ist in Hamburg zu einer besonderen Kultur geworden. Wir schauen uns vor allem das Verbindende an, aber auch das Trennende. Und wir schauen gerade dann auf das Verbindende, wenn das Trennende vorherrscht." Lessings Ringparabel als Handlungsanleitung? "Auch, ja." Weißes Akademie der Weltreligionen, 2010 gegründet, steht auch mit der Stadt im Dialog, etwa mit den Lessingtagen am Thalia-Theater. Sie befördert den Dialog zwischen den abrahamischen Religionen (Juden, Christen, Moslems), mit dem Buddhismus, Hinduismus und den Aleviten - mit Vorträgen, Diskussionen, Seminaren, Publikationen.

Seit 40 Jahren arbeitet Weiße nun zwischen den Stühlen, heute an der Schnittstelle der Religionen, was ist denn nun das Verbindende? "Das gemeinsame Bewusstsein, dass es Dinge gibt, die weder zu kaufen sind noch durch Arbeit erreichbar, die aber eine große Rolle im Leben spielen. Als evangelischer Theologe würde man das Gnade nennen, das Glück, über das man nicht verfügen kann, sondern das einem zuteil wird, das - wenn man es erfährt - eine zentrale Bereicherung ist." Nach einer kurzen Pause sagt er: "Der Bedarf an einem solchen Bewusstsein wächst."

Der Mann, aus dessen Lebensfragen ein eigenes Universitätsinstitut erwachsen konnte, weil sie drängende Fragen unserer Zeit sind, wünscht sich, dass diese Diskussionen durch weitere feste Stellen vorangetrieben werden. In der eigenen Familie muss er sich darum sicher keine Gedanken machen. Da kommen die "sehr kritischen" Fragen und Debatten inzwischen von seinen beiden Töchtern Anna, 31, und Tanja, 33. Und er fühlt sich wohl, wenn sie anerkennen, dass auch er sich für mehr Verständigung in dieser Welt einsetzt.

Professor Wolfram Weiße bekam den roten Faden von Joachim Lux, dem Intendanten des Thalia-Theaters. Er reicht ihn kommende Woche weiter an Halima Krausen, Imamin in Hamburg, weil er ihr Engagement für eine interreligiöse Verständigung in Hamburg und ihren Humor sehr schätzt.