Vural Öger gönnt sich wieder Privatleben, aber an Ruhestand denkt er mit 69 noch nicht. Dabei war der Erfolg des Unternehmers nicht vorhersehbar.

Hamburg. Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für Hamburg leisten, die als Vorbilder gelten. Den Anfang machte Altbürgermeister Henning Voscherau. In der 17. Folge vor einer Woche: Jasmin Wagner

Wer Vural Öger nicht kennt, hätte dennoch keine Mühe, ihn unter Hunderten Anzug tragender Geschäftsleute auszumachen. Es sind kaum mehr als Nuancen, die ihn vom gediegenen Grau, Blau oder Anthrazit der meisten unterscheiden, aber sie verfehlen ihre Wirkung nicht. Das edle, zu perfekter Passform verarbeitete Garn, ein Einstecktuch, das mit der Krawatte korrespondiert, ausgefallene Manschettenknöpfe, feinstes englisches Schuhwerk: Bei Öger ist es mehr Komposition als Kombination, und es zeugt von seltener Stilsicherheit. Dezenz ist oberstes Gebot. "Manschettenknöpfe und Uhren sind in meinen Augen der einzige Schmuck für Männer", sagt Öger. Man kann sich gut vorstellen, wie er morgens mit Leidenschaft und Akribie seine Kleidung für den Tag zusammenstellt. Und das ohne die Beratung seiner Frau.

Gemessen an der akuraten Erscheinung des Mannes wirkt dessen Büro in der Sportallee fast ein wenig überladen. Verschiedene Flugzeugmodelle werben mit dem Öger-Schriftzug, neben einer Zeichnung des von Christo verhüllten Reichstages hängt ein großes Bild mit blauen Mosaiken. Preise, Medaillen und Auszeichnungen stapeln sich in zwei Regalen, weitere liegen in offenen samtbezogenen Schatullen auf dem Teppich. Der Raum strahlt die Gemütlichkeit eines Wohnzimmers aus, in dem der Unternehmer vermutlich mehr Zeit verbracht hat als auf der heimischen Couch.

Sein Erfolg war nicht vorhersehbar, als Vural Öger vor 50 Jahren als junger Mann aus dem Istanbuler Stadtteil Besiktas, bekannt durch den dort ansässigen Fußballklub, nach Deutschland kam, um in Berlin zu studieren. Sein Vater, ein Offizier der türkischen Armee, hatte ihn ziehen lassen. Er ging davon aus, dass der Sohn anschließend wieder nach Hause kommen würde. Doch der junge Vural fühlte sich im pulsierenden Berlin pudelwohl. Und blieb. Hüttenwesen und Maschinenbau lernte er an der Technischen Universität Berlin, 1968 schloss er als Diplom-Ingenieur ab. Noch nicht ahnend, dass er in einem völlig anderen Metier bis ganz nach oben aufsteigen würde ...

Viele Legenden ranken sich um Ögers Existenzgründung. Sie zu entkräften oder gar zu dementieren hat er sich nie sehr bemüht. Vielleicht, weil er Mythenbildung als durchaus zuträglich für das Geschäft erkannte; zuzutrauen wäre es dem blitzgescheiten Mann. So wird berichtet, dass es eine Autopanne war, die Öger 1969 in Hamburg stranden ließ. Hier entdeckte er, dass es trotz 30 000 Gastarbeitern keinen einzigen Direktflug in die Türkei gab. Eine andere Geschichte erzählt, dass Öger seine ersten Flugscheine auf einer Schreibmaschine tippte, damit sie für seine Kunden aus den ländlicheren Teilen der Türkei offizieller wirkten als handgeschriebene Zettel.

Fest steht, dass Öger als Pionier von Hamburg aus Flugzeuge charterte und türkische Gastarbeiter preisgünstig direkt in die Heimat flog. Daraus ging 1973 die Öger Türk Tour GmbH hervor, neun Jahre später gründete er sein Unternehmen Öger Tours GmbH, das schließlich zum sechstgrößten Reiseveranstalter Deutschlands aufstieg.

Im vergangenen Jahr verkaufte er das Veranstaltungsgeschäft von Öger Tours, sozusagen sein Lebenswerk, an den Tourismuskonzern Thomas Cook, bei dem er nun im Aufsichtsrat sitzt. 30 Millionen Euro soll er dafür bekommen haben. "Ach, es muss nicht immer alles bis ins letzte Detail öffentlich gemacht werden", sagt Öger und schlägt, als wolle er ein Ausrufezeichen dahinter setzen, seine Handflächen auf die Tischplatte. "Ich bin zufrieden. Und außerdem, was bedeutet schon Wert? Was ist der Wert eines Unternehmens?", fragt er, um sogleich selber die Antwort zu geben: "Ein Unternehmen kann heute 100 Millionen wert sein und morgen wertlos." Beispiele seien doch viele in der deutschen Geschichte zu finden, Grundig und Quelle, diese Namen verbinde er mit seiner Anfangszeit in Deutschland, mit "meinen Berliner Jahren". Und heute - da existierten sie einfach nicht mehr! "Es gibt gerade in unserer Branche einen ruinösen Preiskampf. Reiseveranstalter in dieser Form haben eine schwierige Zukunft wegen des Online-Geschäfts, da kommt ein Strukturwandel. Dies waren Gründe für meine Verkaufsüberlegungen", sagt er. "Ich habe diejenigen Unternehmen der Firmengruppe behalten, die mit weniger Risiko behaftet sind."

Er hebt seine blau-weiß gemusterte Porzellantasse und nimmt einen Schluck Grüntee. Zwei Liter Minimum trinke er davon am Tag. Überhaupt, er ernähre sich gesund, "mediterrane, leichte Küche und viele Olivenölspeisen". Mit dem Alter kommt das Gesundheitsbewusstsein, heißt es. In zwei Monaten wird Öger 70.

Die Geschäftsführung hatte er sich schon in den letzten Jahren mit seiner ältesten Tochter aus erster Ehe, Nina Sema, 37, geteilt. Jedenfalls so weit, wie ein Self-made-Mann wie Öger Aufgaben und Verantwortung abzugeben vermag. Letztendlich entschloss sich die junge Frau gegen eine Karriere in Vaters Fußstapfen und betreut heute die Hotelgeschäfte in der Türkei, die er nach dem Verkauf noch behalten hat. "Ja, ich vermisse sie", sagt er mit einem leichten Zögern. "Aber wir haben genauso viel Kontakt wie früher. Eigentlich telefonieren wir jeden Tag."

Öger denkt eben nicht an Ruhestand und will weiter über alles informiert sein. "Diese Geschäfte laufen aber zum Glück ohne dieses große Risiko." Damit meint er nicht nur kaufmännische Verluste, sondern auch Katastrophen wie jene vom Februar 1996, als eine Boeing 747 der türkischen Fluggesellschaft Birgen Air vor der Dominikanischen Republik abstürzte und 189 Menschen in den Tod riss. Viele von ihnen hatten bei Öger gebucht, der Vorzeigeunternehmer geriet unter massiven Druck.

Auch das war ein Grund dafür, dass sich Öger nach und nach aus der Gesellschaft zurückzog, kaum mehr Partys oder Empfänge besuchte. Dafür begann er, sich politisch zu engagieren. "Ich lebe in beiden Kulturen und fühle mich verpflichtet, gegen Vorurteile zu kämpfen", sagt er. Stört es ihn, dass er oft als gelungenes Beispiel für Integration, gar als "Vorzeigemigrant" angeführt wird? "Ich sehe das locker. Ich habe hier nie einen Kulturschock erlebt und mich nie fremd gefühlt. Bei meinen Freunden in Berlin war ich einfach der Vural", sagt Öger. "Außerdem ist jeder Mensch auf seine Art eitel. Auch ich freue mich über Anerkennung, finanziell und öffentlich." Im Jahr 2000 wurde er in die von Bundesinnenminister Otto Schily gegründete Zuwanderungskommission berufen, von 2004 bis 2009 vertrat er die SPD im Europa-Parlament.

Und heute? "Ich lebe total zurückgezogen. Das ist die Kehrseite davon, wenn man bekannt ist. Aber ich genieße es sehr, dass ich heute meine Zeit besser einteilen kann und mehr Zeit für mein Privatleben habe", sagt Öger.

Er blickt kurz hinüber zu den vielen gerahmten Bildern, die Tochter Nina und seine Kinder aus zweiter Ehe, Erol Maximilian und Alia Sofie, zeigen. Darin, dass sie jeweils einen morgen- und einen abendländisch geprägten Vornamen tragen, manifestiert sich seine persönliche Geschichte und Haltung zu beiden Kulturen. "Meine jüngeren Kinder sind 19 und 23 Jahre alt, und ich habe sie immer sehr abgeschirmt. Die Familie sollte man aus der Öffentlichkeit heraushalten", sagt Öger, der Privatmann.

Als Unternehmer indes treibt ihn seine Rastlosigkeit noch immer hinaus. Strandurlaub in einem seiner Hotels kann er kaum aushalten. "Das ist mein Charakter, ich muss immer etwas tun." Deshalb reist er viel, ist die Hälfte des Jahres in der Türkei für Geschäfte unterwegs und besucht häufig seine Tochter, die in London Wirtschaft studiert. "Dann führe ich sie zum Essen aus, denn sie sagt immer: 'Papa, ich habe so gehungert.' Und ich gehe einkaufen. Ich liebe die englische Mode, klassisch und gediegen. Da gibt es ein Geschäft mit Manschettenknöpfen. Ich kann nie widerstehen und kaufe immer ein, zwei Paar."

Ebenso oft besucht er seinen Sohn in Süddeutschland. "Er studiert Jura und liebt Bayern und die deutschen Kleinstädte", sagt der Vater. Er lacht auf, als sei das ein passender Beleg dafür, wie gut er dem Kind seine Wahlheimat nahegebracht habe. Auch er sei mittlerweile sehr deutsch, wisse nicht mal, in welcher Sprache er träume. Wohl eher Deutsch. "Mein deutscher Wortschatz ist mittlerweile größer als der türkische", sagt er. "Bei manchen Worten weiß ich nicht mal, wie sie auf Türkisch heißen würden. Ausdehnungskoeffizient zum Beispiel, oder Wirkungsgrad." Typisch. Die deutsche Büroratensprache.

Viel lieber redet Öger über die schönen Künste. Über Bücher, die ihn beeindruckt haben. "Das Geisterhaus" der chilenischen Schriftstellerin Isabel Allende. Oder "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez. Er hört Klassik, aber ebenso gern griechische Folklore, französische Chansons, neapolitanische Musik und deutsche Märsche. Fast sehnsuchtsvoll stimmt er plötzlich einen alten Gassenhauer des Wiener Komponisten Johann Schrammel an: "Dass du mich liebst, das weiß ich, auf deine Liebe ... scheint der Mond." Öger kennt die Zeilen noch aus seinen Berliner Studententagen. "Daran sehen Sie, dass ich kein typischer Türke bin. Ich bin Weltbürger. Und lebe in beiden Kulturen. Warum muss ich mich für eine Identität entscheiden? Beides geht!"

Vor allem sei er mal er selbst. "Ich bin ein Türke mit deutscher Staatsbürgerschaft, der portugiesischen Fado liebt und gern Haydn hört." Dazu ein Mann mit einem Traum, den er sich noch erfüllen möchte: "Einmal in Buenos Aires Tango tanzen." Im gut sitzenden, edlen Anzug. Klingt ein bisschen kitschig. Ist aber auch eine schöne Vorstellung.

Öger reicht den roten Faden an Theo Sommer weiter. Der ehemalige Herausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit" ist für ihn "ein gebildeter und eindrucksvoller Mann".