Der Musikpädagoge hat viele Chöre gegründet. Seinem Enthusiasmus und seiner Leidenschaft fürs Singen kann sich fast niemand entziehen.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für Hamburg leisten, die als Vorbilder gelten. Den Anfang machte Altbürgermeister Henning Voscherau. In der siebten Folge vor einer Woche: Prof. Friedrich-Christian Rieß vom Herzzentrum des Albertinenkrankenhauses

Das kleine Arbeitszimmer in Finkenwerder, in dem Haus, dessen Garten direkt an die Flutschutzmauer grenzt, ist bis unter die Decke vollgestopft mit Büchern, CDs, Ordnern mit Arbeitsmaterialien. Auf dem winzigen Schreibtisch ein aufgeklappter Laptop, wichtige Dateien stets vorspielbereit, irgendwo daneben ein kleines Keyboard, der Bildschirm darüber zeigt Noten an. "So wird heute komponiert", sagt Peter Schuldt. Vor allem aber wird hier darüber nachgedacht, wie man junge Menschen zur Musik bringt, nicht nur für den Hausgebrauch, sondern für große Auftritte. Wie man sie fürs gemeinsame Singen und Lernen von Instrumenten begeistert. Und nicht nur einige Dutzend von ihnen in gut betuchten Stadtteilen, sondern etliche Tausend und vorzugsweise dort, wo Musikmachen genau nicht zum obligaten Bildungspaket gehört.

Peter Schuldt, 57, ist Musikpädagoge und Chorleiter. Und er ist Anstifter, Vordenker und mitreißender Macher. Wenn er erzählt, was Musik bewirken kann, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Bei Hermann Rauhe hat er gelernt, man spürt es. Stillsitzen ist nicht seine Stärke, irgendetwas in ihm scheint immer auf dem Sprung zu sein. Er ist ein lockerer Typ, dem man die Freude an seiner Berufung ansieht. "Wenn man ein Ziel vor Augen hat - sofort machen. Die Kinder kommen schon mit, die lernen ja viel schneller als wir." Sein Motto: "Leute, sabbelt nicht, fangt einfach an." Wenn er das sagt, klingt es bodenständig, unkompliziert, hamburgisch, ein bisschen wie bei Jan Fedder. Einer, dem man sofort abnimmt, dass alles funktioniert, was er anpackt.

Zum Beispiel Young ClassX. Entstanden ist das Musikprojekt auf einer Feier zum Abschied von Konzernchef Michael Otto im Herbst 2007. Gemeinsam mit den Damen von Salut Salon redet man über die Herausforderung, die Elbphilharmonie irgendwann mit musikbegeisterten Menschen zu füllen. Bald wächst die Idee, die Musik einfach in die Stadtteile hineinzutragen. Zusammen entwickelt man das Konzept, Otto gibt das Geld ("einen namhaften sechsstelligen Betrag pro Jahr"), inzwischen sind alle relevanten Partner von der Elbphilharmonie, dem NDR bis hin zu Yamaha und Steinway & Sons mit im Boot. Und Anfang 2010 präsentiert sich Young ClassX mit einem gefeierten Auftaktkonzert im Cruise Terminal in der HafenCity der erstaunten Stadt.

3600 Menschen sind inzwischen dabei, 36 Chöre wurden gegründet, wo es vorher keine gab - das ist Peter Schuldts Werk. "Die Schulbehörde Hamburg ist Kooperationspartner, und ich wurde für diese tolle Aufgabe freigestellt. Über das Landesinstitut Hamburg bilde ich Chorleiter aus, die dann überall in Hamburg Chöre leiten. Die haben inzwischen beim Sommerfest des Bundespräsidenten gesungen und bei den Einbürgerungsfeiern im Hamburger Rathaus, ihr Jahreskonzert findet in der Laeiszhalle statt. 30 Mädchen haben den Eingangschoral von Bachs Matthäuspassion in der Aufführung des Hamburger Knabenchors gesungen."

Das "Musikmobil" - ein eigener Bus - fährt die Jugendlichen zu musikalischen Ereignissen. Und ein Netzwerk verbindet die jungen Musiker im Internet miteinander. Orchester sind entstanden, eine Auswahl hat schon mit Christoph von Dohnányi und Christoph Eschenbach gearbeitet. 900 Kinder und Jugendliche haben bisher im Projektorchester und in weiteren Ensembles mitgespielt, viele bekommen als Stipendiaten kostenlosen Instrumentalunterricht - für die Orchester ist Professor Clemens Malich verantwortlich. 80 Musiker waren bei einem Workshop mit Startrommler Martin Grubinger.

Für das Singen ist Seele und Motor, Motivator, Ideen- und Musiklieferant immer wieder der Mann aus Finkenwerder. Wie das funktioniert? "Wir gehen in eine Schule, an der es keinen Chor gibt, holen Kinder ab der fünften Klasse und die Lehrer zusammen, und dann zeige ich denen, wie eine Chorstunde funktioniert. Wer einmal im Chor gesungen hat, im Klang abgetaucht ist, erlebt hat, wie seine Stimme mit der von anderen verschmilzt und welch tolles gemeinsames Erlebnis das ist, der will weitermachen." Angefangen hat er in Fischbek, Neuwiedenthal, Süderelbe, Harburg, Wilhelmsburg, Bahrenfeld, Lohbrügge - und viele andere folgten. An allen Schulen gab es nach diesem Anstoß große Schulchöre, die nach drei Monaten schon ihr erstes Werkstattkonzert gaben. Die Eltern sind dann eingeladen, sie dürfen mitsingen.

Die Chöre finden an verschiedenen Schulen in den jeweiligen Stadtteilen zusammen. Die einzelnen Unterchöre eines Stadtteils bilden immer wieder Stadtteilchöre, um gemeinsame Konzerte zu veranstalten. Außerdem gibt es einen Projektchor, in dem besonders gute Sängerinnen und Sänger für anspruchsvollere Programme zusammenkommen.

Natürlich kann man nicht einfach einen Chor gründen und schon ist die Begeisterung da. "Ich überlege ständig, was ich machen kann, um die Jugendlichen zu erreichen." Und Chorproben laufen heute ganz anders ab als vor 20 Jahren. Konzentrationsübungen, Atemstütze, Töne halten, Bodypercussion stehen am Anfang. Songs aus Pop, Musical und Gospel sind ebenso selbstverständlich wie deutsche Volkslieder und klassische Musik. Einiges wird von allen Chören eingeübt, dann können sie später problemlos zusammensingen.

Inzwischen häufen sich die Rückmeldungen der Lehrer: Das Verhalten der Kinder habe sich komplett geändert. "In einem Chor müssen die Sänger diszipliniert sein und gut und mutig. Sie müssen aufeinander hören und sich gemeinsam bewegen können. Sie müssen sich fokussieren auf einen Auftritt." Durchhaltevermögen, Erziehung zur Leistung, Gruppenfähigkeit, ganz neues Gefühl für Gemeinschaft - die Positivliste ist so lang, dass es fast unglaublich erscheint. "Ich will die Kinder fordern, es kann doch nicht sein, dass wir so viele Schüler ins Leben entlassen, ohne dass sie gelernt haben, ihre Leistungsfähigkeit richtig auszuschöpfen", sagt Schuldt. Es werden jeden Monat mehr, die mitmachen wollen.

Diesen Weg zum Erfolg hat Schuldt schon einmal absolviert, als Musiklehrer an der Gesamtschule Harburg. Da modelte er 1999 den Schulchor zu einem ganz besonderen Chor um, der Gospeltrain heißt. Er ist heute international gefeiert, hat CDs aufgenommen, macht große Konzertreisen, finanziert seinen besten Sängerinnen und Sängern Gesangsunterricht, Jugendliche aus 30 Nationen sind dabei. "Es geht immer um das Gleiche: Wie mache ich Musik heute so spannend, dass sie andere anzieht, hineinzieht, ebenso begeistert?" Wer im Internet, bei YouTube und auf den Webseiten der Chöre, in die Konzerte von Young ClassX und Gospeltrain hineinschaut, spürt selbst dort die unmittelbare Begeisterung, die im Funkenflug auf das Publikum überspringt.

Für Schuldt selbst, der anderen den Weg zur Musik ebnet, war es eine harte Angelegenheit, bis er Musiker werden durfte. Er stammt aus Finkenwerder, seine Mutter aus einer Fischerfamilie, sein Vater aus einer alten Familie von Obstbauern ("der Stammbaum reicht zurück ins 16. Jahrhundert"). Als Peter in die Schule kommt, muss er Hochdeutsch wie eine Fremdsprache lernen, er spricht bis dahin nur Platt. Als Nachfolger auf dem Obsthof ist er gesetzt. Doch er entwickelt sich anders. "Ich konnte früher singen als sprechen", mit acht, neun Jahren will er ein Instrument lernen - Tüdelkram für den Vater. Als sich der kleine Peter heimlich eine Gitarre besorgt und ebenso heimlich übt, sie aber dann mal unter einem Baum vergisst, fährt der Vater mit dem Trecker drüber. "Absichtlich." Raue Methoden, "aber so hab ich gelernt, mich durchzusetzen", lacht er heute.

Er lernt Industriekaufmann, um den Vater zu beruhigen ("Abitur war für ihn ja überflüssig"). Und lernt Instrumente, spielt in Bands, Übungsraum: das Kühlhaus. Bringt sich Soli von Jimi Hendrix nach Gehör bei, arbeitet sich dann an die Musikhochschule vor, Aufnahmeprüfung mit kaum 20, Klavierstunden. Musiklehrer will er werden, also singt er im Hochschulchor mit, lernt, wie man Chöre leitet.

Das kommt ihm zugute, als Hamburgs ältester Männergesangsverein, die Finkenwerder Liedertafel Harmonie von 1865, einen neuen Chorleiter sucht. Der langhaarige 20-Jährige wird genommen und bringt den heimatverbunden Altherrenverein auf Trab. "Beim ersten Mal hab ich gleich Aufwärmübungen mit ihnen gemacht, da haben manche zur zweiten Probe gleich einen Trainingsanzug mitgebracht." Und der Vater lernt bald, dass in dem Sohn viel mehr steckt, als er dachte. Er gibt seinen Widerstand auf. Die Liedertafel leitet Schuldt noch heute, alle Chorproben auf Platt, "aus Liebe zu Finkenwerder". Das Repertoire ist modern geworden, da steht Popmusik neben Gospel, Musicals, Schlagern und Shantys; der Chor ist in Bewegung, und Nachwuchssorgen hat er, anders als fast alle anderen Männergesangsvereine, gar keine.

Projekte hat Schuldt also reichlich. Früher war es Musik für Naturfilme und Musicals für Kinder. Heute ist es, neben den Chören, vor allem seine Familie - mit seiner Frau Bettina, einer Geigerin, die er an der Gesamtschule Harburg kennenlernte, hat er drei Kinder, die Älteste singt bei Gospeltrain mit. Er bringt Hamburger Musiklehrern bei, wie man ein Chorleiter wird, der begeistern kann. "Chorleiter müssen heute viel mehr können als früher, auch grooven und swingen. Und Lust haben, ungewöhnliche Wege zu gehen." Er hat das didaktische Material dafür erarbeitet und ist ständig auf der Suche nach neuen Ideen dafür. Schuldt hat geholfen, die Hadag-Fähre MS "Altenwerder" wieder aufzumöbeln. Sie ist jetzt ein Kulturdampfer, einmal im Jahr singt er dort an einem Abend irische Lieder.

Was treibt ihn an? "Als Musiker muss man leidenschaftlich sein, dann ist die Antriebsfeder da. Der Punkt, der mich niemals erlahmen lässt? Man sieht die Kinder vor sich, wie sie um ihr Leben singen, sie geben ihr Allerbestes - und das ist so viel Energie, die man zurückkriegt. Mensch, gibt es was Schöneres, als mit solchen Kindern zusammenzuarbeiten?" Peter Schuldt ahnt, dass manche Menschen instinktiv zurückzucken, wenn sie hören, was er alles gleichzeitig bewältigt. Dann lacht er drüber: "Man muss alles intensiv machen, dann schafft man mehr - und hat mehr Spaß!"

Infos und Konzerttermine der Chöre im Internet: www.theyoungclassx.de , www.gospeltrain-hamburg.de , www.harmonie1865.de

Peter Schuldt reicht den roten Faden am kommenden Sonnabend weiter an die "Tagesschau"-Sprecherin Judith Rakers.