Birgit Müller ist seit 1993 Chefredakteurin der Obdachlosenzeitschrift “Hinz&Kunzt“. Zuvir war sie Redakteurin beim Hamburger Abendblatt.

Altstadt. Menschen wie Birgit Müller berühren. Denn es gibt wenige, die sich mit solchem Enthusiasmus und ohne Rücksicht auf eventuelle persönliche Nachteile einer sozialen Sache widmen. Müller hat das getan und damit mal eben ihr Leben umgekrempelt. 1993 kündigte die Wahlhamburgerin ihren Vertrag als Redakteurin beim Hamburger Abendblatt und stürzte sich in eine ungewisse Zukunft: Die heute 55-Jährige gehört zum Gründungsteam der Obdachlosenzeitschrift "Hinz&Kunzt" mit Sitz in der Altstädter Twiete. Seit nunmehr 16 Jahren ist sie Chefredakteurin.

Ja, sie sei damals idealistisch gewesen. Habe auf finanzielle Sicherheit verzichtet - und ihren mutigen Entschluss nie bereut.

Mit gewaltigem Engagement und viel Empathie startet sie 1993 in ihre zweite Karriere. "Ich war damals 37 Jahre alt und hatte eine richtige Midlife-Crisis, war gefrustet", sagt sie ehrlich und streicht ihre braunen, lockigen Haare aus der Stirn. "Irgendetwas langte mir einfach nicht in meinem Leben als Berichterstatterin, die sich nicht einmischen darf und soll", sagt sie und benutzt die süddeutsche Formulierung "langt" für "reicht aus". Da komme wieder die Binnenländerin in ihr hervor, weiß Müller, die im badischen Karlsruhe aufgewachsen ist.

Der Wendepunkt in ihrem Leben kam beim Gespräch mit einem Theologen. Stephan Reimers war das. Mit dem damaligen Leiter des Diakonischen Werkes Hamburg entstand die Idee, etwas für Obdachlose zu schaffen. Etwas, was deren Lebenswirklichkeit wiedergibt und zeigt, wofür sie stehen. Birgit Müller war elektrisiert. Gab kurzerhand ihre Festanstellung auf, verschloss ihre Ohren vor Unkenrufen und Abraten und stürzte sich mit einem Vertrag über 20 Wochenstunden in den Aufbau von "Hinz&Kunzt". Einer Monatszeitschrift, die von professionellen Journalisten geschrieben und geplant, von Grafikern und Fotografen gestaltet wird. Den Verkauf übernehmen die Wohnungslosen auf der Straße, mittlerweile kostet ein Heft 1,90 Euro, ein Euro davon geht als Lohn an den Verkäufer oder die Verkäuferin. Durchschnittlich 66 500 Exemplare wurden im ersten Halbjahr 2011 verkauft, damit ist es das auflagenstärkste Straßenmagazin Deutschlands.

Eigentlich sollte "Hinz&Kunzt" erst mal nur ein Projekt mit zwei Jahren Laufzeit für Müller sein. "Ich hatte mich aber sofort in diese Idee und die Menschen verliebt", sagt sie. "Ich merkte, dass ich mich da total einbringen und dazu mit meinem journalistischen Grundsätzen arbeiten kann."

Es schien, als seien für die Frau mit dem manchmal fast zu großen Herzen alle Wünsche in Erfüllung gegangen. War es denn alles rosarot? "Tja, wie es so ist, wenn man frisch verliebt ist, gibt man sofort mit aller Kraft alles für etwas," sagt sie und stupst ihr Wasserglas an. Denn die Liaison der "frischverliebten" Birgit Müller und "Hinz&Kunzt" prägten Umwege. "Mein Einstiegsfehler war ganz klar meine Naivität. Dass ich dachte: 'So, jetzt krempeln wir hier mal die Ärmel hoch, und in zwei Jahren gibt es keinen Obdachlosen mehr in der Stadt'", sagt Müller. "Ich habe völlig unterschätzt, was die Menschen für eine Odyssee hinter sich haben, dass sie alles verloren haben, was zählt. Von Job über Familie, Selbstbewusstsein, Freunden." Dazu kämen in den meisten Fällen Schulden, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit. "Erst mal verstehen musste ich auch, dass gar nicht alle unbedingt von der Straße weg wollen, dass sie Platte machen, weil sie dort nicht allein sind, sich gegenseitig helfen und auch eine Aufgabe haben: die des täglichen Überlebens." Bloßer Überlebenskampf, kein Fünkchen Sozialromantik. "Einige Obdachlose haben große Angst davor, wieder eine Anschrift zu haben, denn dann werden sie wieder erfasst, bekommen Behördenschreiben", weiß Müller heute. Erkenntnisse, die sie als Erfolge einordnet.

Und überhaupt: Etwas zu revidieren, zu überdenken und zu scheitern, "das ist fester Bestandteil meines Lebens". Klar sei deshalb, "dass ich mich hier bei ,Hinz&Kunzt' nicht überlegen fühle". Sie habe selbst oft genug erfahren, dass eben nicht immer alles glatt laufe. Heute könne sie da offen drüber sprechen, sagt Müller, lehnt sich sacht zurück und schiebt kurz ein, dass "ich mich vielleicht auch deshalb oft so gut in die Lebensumstände der Obdachlosen einfühlen kann". Nicht, dass sie etwas Ähnliches am eigenen Leib erfahren habe, doch es gab da schon einige Brüche.

Aufgewachsen ist die emphatische Frau in Karlsruhe, eher ländlich im Vergleich zur Großstadt Hamburg, schön behütet. "Ich bin in einer wohlhabenden Familie groß geworden, alles war eigentlich wunderbar, doch dann trennten sich meine Eltern", sagt Müller. "Und dann ging es vom selbst entworfenen Designerhaus in die Mietwohnung." Eine extrem schwere Zeit für ihre Mutter, sie selbst habe sich hingegen gefreut, erst einmal keine Entwurzelung gespürt.

Andere Teile ihrer Kindheit verbrachte sie in einem wahren Paradies im Odenwald: einer Bonbon- und Waffelfabrik. Ihr Großvater betrieb diesen Hort von Zuckerwerk, sie erinnert sich an die süßen Gerüche und schließt kurz verzückt die Augen. "Ich weiß noch, wie wir von der warmen Masse für Karamelbonbons genascht haben, das sind unauslöschbare Kindheitserinnerungen!" Es war ein herber Einschnitt, als ihr Opa verstarb und die Fabrik geschlossen wurde. "Gerne denke ich daran, wie wir dort alle zusammen, mit den ersten Gastarbeitern aus Spanien, die bei meinem Opa angestellt waren, an einem großen Tisch saßen und gemeinsam gegessen haben und ich mit den Kindern spielen konnte."

Die Trennung der Eltern, der Verlust des Großvaters - es folgten Schwierigkeiten in der Schule. "In der 10. Klasse bin ich mit vier Fünfen sitzen geblieben. Mit Nachhilfestunden habe ich dann aber mein Abitur geschafft", sagt sie. Es folgte ein Jurastudium in Freiburg, "doch das habe ich nach drei Semestern abgebrochen, weil es irgendwie doch nicht das Richtige war", sagt sie. Es sollte lieber ein Lehramt-Studium in Deutsch und Spanisch sein. Ein weiterer Einschnitt kurz vor dem Examen. "Da hatte ich plötzlich die totale Lernsperre, nichts ging mehr. Zum Glück standen wirklich immer meine Eltern hinter mir, die mich unterstützt haben." Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und ihr Studium zu beenden, reiste sie nach Spanien. "Danach hat's geklappt."

Mit dem Uni-Abschluss in der Tasche widmete sich die "Binnenländerin" dann erst einmal ihrem lang gehegten Traum: "Der hieß eindeutig und schon, seit ich zwölf Jahre alt war, dass ich nach Hamburg ziehen will." Als Mädchen hatte sie hier einmal Urlaub gemacht, "und ich dachte seitdem, dass Hamburg am Meer liegt", sagt sie. Wie so oft im Gespräch lacht Birgit Müller. Herzlich, gestikuliert währenddessen mit ihren Händen, versetzt sich in ihre einzelnen Lebensphasen und beschreibt offen ihre Gefühle. "Als ich in den 80er-Jahren in Süddeutschland im Fernsehen gesehen habe, dass die Fischauktionshalle eingeweiht wird, habe ich geweint, weil ich nicht dabei sein konnte." Müller erzählt solche privaten Begebenheiten ohne Hintergedanken, frei von Koketterie, vielmehr erklärend.

"Mein Motor in diesem Leben ist ganz klar die Leidenschaft, ich bin verloren, wenn ich die nicht bei meiner täglichen Arbeit verspüre." Sie spürt sie nach wie vor. Sonst wäre Müller nicht schon seit 16 Jahren ununterbrochen Chefredakteurin. Ungewöhnlich lang für eine solche Position. Zu erklären ist das sicher mit ihrem Engagement, das nie eingeschlafen ist. Und damit, dass sie neue Ideen entwickelt, beispielsweise besondere Ausgaben herausbringt. Mehrmals schon standen für "Koch-Ausgaben" Obdachlose gemeinsam mit Spitzenköchen am Herd, die Rezepte wurden veröffentlicht.

Sie kämpft mit jeder Ausgabe dafür, dass Wohnungslose "als Teil unseres Miteinanders" wahrgenommen werden. "Ich will einfach in einer Gesellschaft leben, wo Armut kein Stigma ist. In der man etwas Gutes für andere, nicht nur für sich selbst tut. Ich leide darunter, wenn ich in einer Ellenbogengesellschaft bin." Heute wirkt Birgit Müller angekommen. Nach wie vor brennt sie für diese Sache, spürt ihre Verantwortung.

Und zu Hause? Kann sie abschalten? "Mittlerweile ja", sagt Müller. Dörflich wohne sie in Ottensen, "ganz klischeemäßig verlasse ich mein Dorf recht selten", so Müller.

Hobbys hingegen habe sie "null", sie reise zwar ganz gern mit Freunden, am liebsten nach Südfrankreich zum Zelten. Und sie hätte gern ein paar Kilos Gewicht weniger. Sport könnte helfen. Aber: "Mein Schweinehund ist ein Riesenköter!", sagt sie. Wieder dieses laute Lachen. "Aber theoretisch walke ich." Und praktischerweise kocht sie. Oft und mit Freude, am liebsten für andere. "Mit Freunden aus Ottensen mache ich das, ich esse ja gern", sagt Müller und vergräbt ihr Gesicht verschämt tuend in den Händen - und gackert plötzlich los. Eine fröhliche Schauspielerin ist sie. "Biiirgit", ruft es dann laut aus dem Vorraum. Frau Müller muss los. Denn irgendwas ist ja immer. Ihr Glück.

Birgit Müller gibt den roten Faden an Dr. Andreas Krüger weiter. In der kommenden Wochenendausgabe erzählt der Kinder- und Jugendpsychotherapeut von seinem Leben. Müller findet ihn und seine Arbeit "toll, weil er Kindern hilft und zeigt, wie man ein Trauma auflösen kann. Er holt sie aus ihrer Hilflosigkeit heraus und lässt sie zu Experten ihrer eigenen Not werden."