Ihre lebendige Gestik musste sie sich für die „Tagesschau“ abtrainieren. Judith Rakers über Prominenz, Kinder und Obdachlose.

Hamburg. Die eigentliche Katastrophe übersteht sie lässig: Der Wind hat die langen blonden Haare von Judith Rakers, 35, zerzaust, die Haarbürste ist nicht im Handgepäck. Ungut fürs Foto, und der Autor, traditionell eher kurzhaarig, kann nicht helfen. Aber die freundliche Kellnerin im Eppendorfer Restaurant Tiefenthal. Die Nachrichtensprecherin ist erleichtert: "Ich renne ja normalerweise ziemlich ungeschminkt rum, aber man muss mich schon wiedererkennen können. Ihre Leser sollen ja nicht fragen: Das ist doch die von der 'Tagesschau', wie sieht die denn aus?" Vor der Sendung muss sie schließlich eine ganze Stunde in die Maske, "da wär's ja traurig, wenn kein Vorher-nachher-Effekt zu sehen wäre".

Der Job vor der Kamera in Lokstedt ist eben ständig dabei. Und ein hoher Perfektionsgrad wird erwartet, beim Aussprechen schwieriger fremdsprachiger Namen ebenso wie beim Aussehen. Wer die 20-Uhr-Nachrichten spricht, arbeitet auf dem Präsentierteller der Nation, steht unter Dauerbeobachtung, beim Brötchenholen wie beim privaten Dinner im Restaurant, wo die Kommunikation am Nachbartisch schon mal erstirbt, weil man zuhört, was die von der "Tagesschau" mit Mann und Freunden bespricht.

Für die "Tagesschau" musste sie sich bestimmte Dinge abgewöhnen: "Ich bin ja von Natur ein lebhafter Mensch. Früher haben meine Freundinnen meine Hände festgehalten, wenn wir miteinander geredet haben. Weil durch mein Reden mit Händen und Füßen alle drum herum erraten konnten, worüber ich sprach, selbst wenn wir nicht zu laut waren."

Damit war 2005 Schluss. Da hieß es: Rücken steif, unbewegtes Gesicht, neutral vorlesen, objektiv sein, nicht bewerten, auch nicht durch das Hochziehen der Augenbrauen. Ein Sprechtraining eliminierte die ostwestfälische Färbung ihrer Stimme. Auch außerhalb der Sendung soll es keinen Kommentar zu aktuellen politischen Themen geben. "Das fällt mir schon schwer, ich werde ja oft um Statements gebeten. Da muss ich mich zurückhalten und politisch korrekt sein, und dann wird das schnell konturlos und langweilig." Das sei eben ihre professionelle Rolle, sagt sie. Wenn es dann spitzzüngig kritisiert wird, freut sie sich inzwischen: "Dann hat es ja funktioniert."

Ausgleich hat sie schließlich genug. Fünf Jahre lang neben der "Tagesschau" hat sie noch das "Hamburg Journal" des NDR-Fernsehens moderiert, da ging es schon ein bisschen lebendiger zu. Seit 2010 ist es, an der Seite von "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, die älteste ARD-Talkshow "3 nach 9". Da erlebt man sie von ihrer spontanen Seite, mit eigenen Ideen und neugierigen Fragen. Die "Tagesschau" und "3 nach 9", das sind zwei Pole ihrer Persönlichkeit, sagt sie. "Ich muss mich für keinen verbiegen." Nur wer sie nicht kenne, wundere sich darüber. "Wegen solcher Sachen bin ich schließlich Journalistin geworden."

Auf die Idee mit dem Journalismus kam sie früh, machte mit 14 ein Praktikum bei ihrer Heimatzeitung in Paderborn. Ohne Führerschein konnte sie nicht zur Recherche rausgeschickt werden, sie durfte in der Geschäftsstelle Anzeigen verkaufen, "aber das gehört ja auch zu einer Zeitung". Abends schlich sie dann nach oben in die Redaktion und schaute zu. Nach dem Abi kam ein zweites Praktikum, als Erstes schrieb sie eine Bildunterschrift, nach drei Tagen das Porträt eines Obdachlosen. Da war es passiert.

Sie studierte "Graubrot", Geschichte, Literatur, Kommunikationswissenschaften. Auch wenn der alleinerziehende Vater sie beschwor, wenigstens auf Lehramt zu studieren, damit sie was Sicheres hätte - sie wollte Journalistin werden, "am liebsten beim Spiegel". Maxime: "Wenn man was will und gut ist, kriegt man das auch irgendwann." Als Stefan Aust dann tatsächlich irgendwann anrief, war sie schon beim NDR und der "Tagesschau" und glücklich.

Vom Radio, wo sie sechs Jahre während ihres Studiums als Moderatorin arbeitete, führte der Weg zum Fernsehen beim NDR. "Ich hab mich da für einen Job hinter der Kamera beworben." Erst später fragte der Chef, ob sie nicht kleine Live-Reportagen übernehmen wolle, schließlich habe sie ja Radio-Erfahrung. Für sie war das, sagt sie, eine wunderbare Zeit, wo man sich auch ausprobieren konnte. Sie machte alles mit und erzählt begeistert von einem Interview während einer Fahrt auf der Wildwasserbahn.

Judith Rakers ist eine lebhafte Gesprächspartnerin, nur manchmal, wenn sie überlegt, ob sie etwas überhaupt verraten soll, bekommt sie für Sekunden einen undurchdringlichen Marlene- Dietrich-Blick. Für Sekunden nur, denn selbst das Thema Schönheit, das sie in vielen Gesprächen leicht genervt, aber elegant umschifft hat, ist heute verhandelbar. Ja, es gebe in Deutschland "ein extremes Schubladendenken". Und wie ist ihre Schublade beschriftet? "Hübsche blonde Sprecherin, so was passt für Boulevard-Fernsehen, rote Teppiche, Glamour, keine harten Nachrichten."

Fernsehen hat immer mit Äußerlichkeiten zu tun; als sie den Job bei der "Tageschau" bekam, hat sie sogar kurz daran gedacht, ihre langen blonden Haare abzuschneiden, "um das Image des Lieblichen" loszuwerden.

Manchmal, sagt sie, steht das Aussehen auch ein bisschen im Weg, verschließt Türen. "Zum Beispiel beim Casting für die Nachfolge von Anne Will bei den Tagesthemen, da war ich noch ein bisschen jung, gerade 30 geworden. Aber da muss man schon eine gewisse Seniorität ausstrahlen." Nein, Gedanken darüber, was weiter aus ihr werden solle, mache sie sich nicht. "Das kommt schon, wenn es so weit ist." Es kam immer, so wie der Anruf von Jan Hofer, ob sie nicht zur "Tagesschau" kommen wolle, oder der "Eurovision Song Contest" im vergangenen Jahr. Oder die "Klug-Show", wie sie es im Gespräch nennt, die neue Show "Der klügste Deutsche", ein intelligenter Intelligenztest, bei dem man 100 000 Euro gewinnen kann. Die startet im Herbst.

Bis der nächste Schritt nach oben kommt, bleibt die "Tageschau" das Zentrum von Judith Rakers. Mit Schichten, die mal um 4.30 Uhr anfangen, wenn das "Morgenmagazin" dran ist, die von 18 Uhr bis Mitternacht dauern bei der normalen 20-Uhr-Hauptnachrichtensendung mit den 21-Uhr-Nachrichten und dem News-Block in den "Tagesthemen" oder die Nachtschicht von 23 Uhr bis 6.30 Uhr. "Die Frühschichten sind für meinen Biorhythmus tödlich, da steht mein Blutdruck auf 'klinisch tot', auch nach drei Treppen noch."

Die freie Mitarbeiterin des NDR hat auch außerhalb des "Tagesschau"-Studios reichlich zu tun. Sie moderiert Galas, Konferenzen und Benefizveranstaltungen, Letztere natürlich ohne Honorar. "Fürs Nicht-Rauchen, fürs Blutspenden, fürs Organspenden." Weil da täglich zwei Anfragen kommen, hat sie sich jetzt zwei Schwerpunkte gesetzt.

Einmal hilft sie der Hamburger Obdachlosenzeitung "Hinz&Kunzt", sammelt Spenden für ein Haus, in dem das Projekt in der Innenstadt seine Geschäftsstelle, ein Café und Wohnungen für Obdachlose verbinden will. "Da brauchen wir noch viele Spender, gern auch Großspender, die ein ganzes Zimmer dort bezahlen wollen." Ihre Begeisterung für das Projekt geht direkt zurück auf ihren ersten Artikel, damals in Paderborn - Journalismus mit Langzeitfolgen.

Und dann engagiert sie sich für die Flüchtlings- und Hungerhilfe in Afrika, die World Vision organisiert. Dafür fliegt sie am 4. Oktober für eine Woche nach Ostafrika - Flüchtlingslager in Kenia, Äthiopien, Tansania, ein bisschen bang schon vor dem, was da auf sie zukommt. Ein Patenkind über World Vision hat sie schon seit zehn Jahren. "Ich habe es bereits im Studium unterstützt." Aber selbst vor Ort das Elend zu sehen, "da mach ich mich auf einiges gefasst".

Als Nachrichtenfrau sieht sie viele Bilder ungefiltert, Katastrophen, Kriege, Elend, Leid. Nimmt sie solche Bilder mit nach Hause? Wie wird man das wieder los? "Wenn man mit den Grausamkeiten konfrontiert wird, die Menschen einander antun, kann es passieren, dass man zum Menschenhasser wird. Aber ich spüre, bei meinem wunderbaren Mann, in der Familie, bei meinen Freunden, wie positiv und empathisch Menschen sein können. Da kommt auch mein Charity-Engagement her."

Erdung, der Versuch, in einem der exponiertesten Jobs der Republik normal zu bleiben - das muss immer wieder sein. Zum Beispiel beim Reiten. Judith Rakers reitet von Jugendtagen an, jetzt auch auf einem eigenen Pferd. "Ungeschminkt, irgendwo auf Rügen, mein Mann, ein kleines Ferienhäuschen, das Pferd und die Mücken." Und dann geht's zurück, in ein Leben, wo man sich manchmal tagelang nur zwischen Tür und Angel sieht.

Ob in diesem Leben unter Volldampf irgendwann auch mal Kinder Platz finden? "Wenn ich diesen Wunsch verspüren würde, dann würde sich das fügen. Ich hör die biologische Uhr noch nicht ticken. Es ist aber inzwischen manchmal so, dass ich kleine Babys süß finde und denke: Das würd ich jetzt gern auf den Arm nehmen - das war vor ein paar Jahren noch nicht so."

Judith Rakers reicht den roten Faden weiter an Birgit Müller, die engagierte Chefredakteurin der Hamburg-Obdachlosen-Zeitung "Hinz&Kunzt".