Top im Job: Wie man Stresssymptome erkennt und ihnen sinnvoll begegnet, erklärt Mirriam Prieß

Oft passiert es in der Lebensmitte: Berufstätige fühlen sich erschöpft und antriebslos. Körperliche Beschwerden kommen dazu, später Angstgefühle, sogar Panikattacken. Dann ist das "Energiekonto" leer, der Mitarbeiter hat eine Stresserkrankung entwickelt.

Dr. Mirriam Prieß ist Medizinerin und Psychotherapeutin. Sie berät Unternehmen und coacht Einzelpersonen. Viele kommen in ihre Beratung, wenn andere Fachärzte nicht weiter wissen. "Zum Beispiel der Geschäftsführer, der immer wieder das Gefühl hatte, einen Herzinfarkt zu erleiden", erzählt Prieß. Vier Kardiologen hatten keine körperliche Krankheit bei ihm feststellen können. Schließlich habe sich gezeigt, dass ein aufreibender Trennungskonflikt hinter den Symptomen steckte. Ein ungelöster Konflikt liege jeder Stresserkrankung zugrunde, erklärt sie. "Dabei ist die subjektive Bewertung entscheidend, ob ich unter Stress gerate."

Ein ungutes Gefühl sei bei den meisten Betroffenen schon am Anfang vorhanden, sagt die Ärztin. Auch wenn sie noch nicht benennen könnten, was gerade schieflaufe. Das Problem sei, dass viele darüber hinweggingen. Erste Anzeichen für eine sich anbahnende Stresserkrankung können Probleme mit der Konzentration, Grübeln, innere Anspannung sein. In Phase zwei treten stärkere Symptome auf. Zum Beispiel Ohrgeräusche, Rücken- oder Magenprobleme. "Der eine kann es nicht mehr hören, dem anderen schlägt es auf den Magen, und dem Nächsten zerbricht es das Herz", sagt die Ärztin.

Anstatt innezuhalten, beginnt der Mensch in der dritten Phase noch mehr zu arbeiten, um die entstandenen Defizite auszugleichen. In Phase vier zieht der Betroffene sich schließlich komplett aus dem sozialen Leben zurück. Prieß: "Diese Leute haben meist nur noch ihren Job."

So findet niemand aus der Abwärtsspirale heraus. Denn gerade, wer sich gestresst fühlt, sollte darauf achten, dass er in sechs relevanten Lebensbereichen zufrieden ist: Beruf, Familie/Partnerschaft, Gesundheit, soziale Kontakte, Individualität/Hobbys sowie Glaube/Spiritualität. "Bei vielen sind diese Bereiche gar nicht alle ausgebildet", sagt Prieß. "Oft gibt es nur den Job und vielleicht ein bisschen Familie."

Wer merkt, dass er ins Ungleichgewicht gerät, kann gegenlenken, indem er auf sein Energiekonto einzahlt, statt nur abzuheben. Wie? "Das kann jeder nur für sich selbst beantworten", sagt Prieß. "Jeder trägt die Antwort für sein Gleichgewicht in sich." Es geht darum, Dinge zu tun, die den Stressgeplagten aufbauen und widerstandsfähiger machen. "Für den einen ist das ein Spaziergang in der Natur, für andere eine Sportart oder gute Gespräche." Prieß: "Viele haben die Beziehung zu sich selbst verloren. Es gilt, diese wieder aufzunehmen und in allen sechs Lebensbereichen eine Identität aufzubauen."

Dabei taucht zwangsläufig die Frage auf, worüber man sich definiert: Wer bin ich? Stehe ich da, wo ich stehen will? Lebe ich oder funktioniere ich? "Häufig ist es so, dass diejenigen, die ausbrennen, nach außen hin sehr erfolgreich sind. Sie merken aber irgendwann, dass sie sich selbst auf dem Weg nach oben verloren haben, dem Leben nur hinterhergelaufen sind und eigentlich die Erwartungen anderer erfüllt haben."

Zur Vorbeugung rät Mirriam Prieß, sich regelmäßig zu fragen, ob alle Lebensbereiche noch zu ihrem Recht kommen. Schon beim ersten unguten Gefühl: "Frühzeitig handeln, statt verdrängen", sagt die Ärztin. "Und vor allem wieder in Kontakt mit sich selbst kommen, merken, was einem guttut, und sich auf das besinnen, was der eigenen Person tatsächlich entspricht."