Das Konzept einer allumfassenden Bildung ist nicht mehr aktuell. Schnelligkeit ist der neue Wert im Lern- und Lehrprozess.

Mein Studium war für mich wie ein warmes Bad. Man steigt vorsichtig ins Wasser, um sich nicht zu verbrühen. Danach genießt man erst einmal die Wärme, lässt die Umgebung auf die Sinne wirken, ehe man anfängt, aktiv zu werden und etwa zu lesen. Bei einem warmen Bad tickt keine Uhr, die Zeit wird relativ. Und man verlässt die Wanne erst wieder, wenn man das Gefühl hat, die ganze Chose umfassend ausgekostet zu haben. Mein Bekenntnis: Ich habe 14 Semester Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politik auf Magister studiert. Trotzdem zog die Studienzeit schnell an mir vorüber. Ich habe nicht das Gefühl, auch nur einen Tag zu viel an der Universität verbracht zu haben.

Für junge Menschen heute ist das Studium dagegen eher wie der sprichwörtliche Sprung ins kalte Wasser. Sie erleiden einen Schock ob der Kälte und müssen schnell strampeln und das Schwimmen lernen, um nicht auszukühlen und unterzugehen. Und weil das Wasser so eisig ist, will und kann niemand lange darin ausharren. Das Ziel kann nur sein, ihm schnell zu entsteigen. Im kalten Wasser kommt keine Behaglichkeit auf. Aber es befördert Tempo und Zielstrebigkeit.

Der Bologna-Prozess hat das Studieren tief greifend verändert. 1999 unterzeichneten 29 europäische Bildungsminister im italienischen Bologna eine Erklärung zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums bis zum Jahr 2010. Seither sind Magister und Diplom, die herkömmlichen Abschlüsse an den deutschen Unis, zum Auslaufmodell geworden. Die Abschlüsse heißen jetzt meist Bachelor und Master, sind in der Lehre viel stärker genormt und sollen ein schnelleres Studium ermöglichen. Für den Bachelor beträgt die Regelstudienzeit sechs bis acht, für den Master zwei bis vier Semester. Das Konzept "Lernen fürs Leben" mit dem Ziel, sich ein weitreichendes Weltwissen im humboldtschen Sinne anzueignen, hat ausgedient, möchte man meinen.

Auch die Universität Hamburg hat ihre Studienziele und Inhalte umdefinieren müssen. Kreditpunktesystem, Verschlankung und Verschulung der Lerninhalte sowie das Studieren im Eilschritt sind für die Wissenschaftler längst Realität. "Allgemeine Menschenbildung als Bestandteil der akademischen Studien ist leider sehr in den Hintergrund gerückt", sagt Unipräsident Dieter Lenzen.

Der Bologna-Prozess soll drei Dinge fördern: Die nationale und internationale Mobilität der Studierenden, die internationale Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Universitäten und die Beschäftigungsfähigkeit nach Ablauf des Studiums. Es ist nicht zu leugnen, dass diese Ziele mitunter erreicht wurden. Dennoch ergeben sich Fragen. Wo bleibt der Traum von sozialer Wärme und studentischer Gemeinschaft? Was für Absolventen verlassen bei so einem Schnellstudium später die Uni? Wie gehen die Unis auf die neuen Rahmenbedingungen ein? Wie unterstützen sie die Erstsemester? Und wie verhindern sie Stress und Studienabbrüche? Immer schneller sollen immer mehr vorgeformte Pflichstoffe gelernt werden. Dazu wird der Nachwuchs an den Hochschulen immer jünger, die Studienanfänger sind teilweise erst 17 Jahre alt und damit noch nicht einmal volljährig. Auf das Turbo-Abi folgt das Turbo-Fachstudium. Soziales Engagement, etwa im AStA oder in Hochschulgruppen, aber auch das Jobben im Supermarkt oder regelmäßiger Sport können bei dem hohen Tempo auf der Strecke bleiben. Und plötzlich fühlt sich der Studierende wie ein Schaf im Pferch. Die derzeit Studierenden können meist nur bestehen, wenn sie ihr Lernen komplett ins Zentrum stellen. Ich lerne, also bin ich.

Sieht so also der gute Student im Jahr 2011 aus: pflichtbewusst und bienenfleißig mit akademischem Tunnelblick? "Absolventen sollten eine Qualifikation haben, die die unmittelbare Aufnahme eines Berufs ermöglicht. Ob dies tatsächlich der Fall sein wird, muss abgewartet werden", sagt Lenzen. Noch ist das neue Studienmodell im Versuchsstadium. Sein Erfolg muss sich erst beweisen. Eine spannende Frage dabei: Inwieweit wird sehr jungen Absolventen im Alter um die 20 Jahre schon die Besetzung von Führungsrollen zugetraut? Bislang sind es die Unternehmen gewohnt, "reife" Absolventen einzustellen. Aber das Abi nach zwölf Jahren, die Aussetzung des Wehrdienstes sowie eben die Einführung des Bachelors lassen die Absolventen immer jünger werden. Ein Risiko: Viele junge Menschen wissen noch gar nicht genau, wohin sie beruflich eigentlich wollen. Der moderne Absolvent ist viellicht tatsächlich noch wie ein Küken.

Die Wirtschaft hat ihre Antwort in der Absolventen-Frage noch nicht gefunden. Einerseits schreit sie nach schnell und zielstrebig ausgebildeten jungen Arbeitskräften, die noch formbar sind. Andererseits aber sind Auslandserfahrung oder Soft Skills wie Rhetorik und Verhandlungstechniken gefragt. Aber soziale, kommunikative und methodische Kompetenz lernen sich nicht von allein. Bei besonders straffen und verschulten Studienplänen bleibt jedoch kaum Zeit für die Soft Skills. Auch Praxissemester finden weitaus weniger als früher statt.

Dass man Studenten mit den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht allein lassen kann, hat die Uni Hamburg erkannt. Sie hat ein breites Unterstützungsangebot entwickelt. Das Spektrum ist fächerübergreifend. "Es beginnt mit einer 'One Stop Agency' für die neu aufgenommenen Studierenden über Brückenveranstaltungen zum Erwerb fehlender Qualifikation bis hin zu einem breiten Beratungsangebot in den Fächern", sagt Lenzen. Die Nachfrage nach Beratung ist mit Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge so groß wie nie. Es gilt nicht mehr, dass die Studenten mit verschieden angelegtem Fachwissen aus der Schule im Grundstudium auf einen gemeinsamen Stand gebracht werden, nein, heute müssen sie sich das fehlende Wissen schnell selbst aneignen und ihre Defizite korrigieren. In der Regel gibt es auch in jedem Semester Prüfungen, und die vorlesungsfreie Zeit ist kürzer als früher. Studenten brauchen heute Anlaufstellen, um mit diesen Anforderungen nicht alleine zu sein. Das gilt besonders für Studienanfänger. Jeder Student sollte zudem fachfremde Vorlesungen besuchen, um seinen Horizont zu erweitern.

Überforderung im Studium ist seit Bologna systemimmanent. Lenzen selbst kritisiert das Risiko, "dass Studierende vor lauter Spezialorientierung die Möglichkeit verfehlen, sich selbst, ihre Potenziale und Wünsche zu erfahren, um sie zum Ausgangspunkt ihrer Studienorientierung zu machen". Ein Gerücht allerdings ist falsch: Dass der Bologna-Prozess mehr Studienabbrecher hervorbringe. Das ist nicht der Fall. Heute wird allerdings früher abgebrochen, was die Kosten senkt. Abbrecher erleben die Diskrepanz zwischen ihren Vorstellungen und dem Studium früher als im alten System. Dadurch wird das Problem, das falsche Fach zu studieren, schneller erkannt und gelöst.

Aber jene, die bei ihrem Studium bleiben, leiden unter höherem Stress als früher. Bachelor und Master begünstigen das Ausbrennen. Burn-outs sind unter Studierenden im neuen System häufiger als im alten, so das Studentenwerk. Auch hier ist Beratung und gegebenenfalls die direkte Weiterleitung in die Obhut eines Psychologen oder Nervenarztes das Wichtigste. Die Uni Hamburg beschäftigt dafür ein Team von Hochschulpsychologen. Gut beratene Studenten sind glücklichere Studenten. Auch die neue Art zu studieren kann Spaß machen. Von der warmen Wanne allerdings können Studenten von heute nur träumen.