Keine Notenkenntnisse und trotzdem den Takt angeben - geht das? Und was bringt so ein Erlebnis für den Alltag in der Firma? Wir haben es ausprobiert.

Berlin. Stille. Nervosität. 52 Augenpaare sehen mich konzentriert an. Nur das Holz unter meinen Schuhen knackt. Noch einmal tief durchatmen. Kurz nicke ich nach links der Konzertmeisterin Julia Rogozia zu, hebe den Taktstock. Meine rechte Hand mit dem federleichten Holzstab schlägt nach unten - und auf dieses Kommando gleiten die Bögen der Streicher über die Saiten. Als hätte ich die "Play"-Taste meiner HiFi-Anlage gedrückt, ertönt Brahms 5. Ungarischer Tanz. Nur viel lauter, wuchtiger, direkter, intensiver.

Denn ich bin mittendrin. Auf dem Podium. Vor und neben mir 52 Musiker des RIAS Jugendorchesters. Angehende Profis, die jede Note kennen und ihre Instrumente im Schlaf beherrschen. Sie verstehen ihr Handwerk, ich nicht. Ich habe nie ein Instrument gespielt, kann knapp noch die C-Dur-Tonleiter verfolgen. Aber ich stehe jetzt am Pult. Ich habe den Taktstock, ich gebe den Einsatz, bestimme Tempo und Lautstärke. Und diese 52 Menschen folgen ganz präzise meinen Anweisungen, erfüllen das Klangbild, das mir von Brahms volkstümlicher Komposition vorschwebt, mit Leben. Die Reaktion auf meine Gesten ist unmittelbar - wenn die Handbewegungen eindeutig sind und immer frühzeitig die Einsätze der einzelnen Instrumente ankündigen.

Damit das klappt, haben wir am Freitag in nur vier Stunden die Grundzüge des Dirigierens erlernt und am Sonnabend zwei Stunden mit dem Orchester geprobt. Wir - das sind sechs Führungskräfte aus verschiedenen Unternehmen und Branchen, allesamt Teilnehmer des Seminars "Manager dirigieren ein Symphonieorchester", das Christian Reichart, Geschäftsführer des RIAS Jugendorchesters, initiiert hat und gemeinsam mit dem Solopauker der Berliner Philharmoniker, Professor Rainer Seegers, leitet.

Professionelles Feedback gibt der Berliner Management-Coach Gustav Greve: Er unterstützt die Teilnehmer dabei, das Erlernte in den Führungsalltag zu transferieren. Denn auf den ersten Blick scheint es sich um ein reines Erlebnisseminar für Musikliebhaber zu handeln. "Das Finale aus Elgars Enigma-Variationen selbst zu dirigieren ist ein Jugendtraum, den ich hier verwirklichen kann", sagt Georg Schlumpp, Leiter der Personalentwicklung der Berliner Converteam GmbH. Natürlich erfüllt das Seminar auch solche Wünsche - aber es vermittelt weit mehr als das einzigartige Erlebnis, ein Orchester zu führen. Sich als Laie vor 52 Jungprofis und einen Weltklasse-Pauker zu stellen und den Takt anzugeben, erfordert Mut und ist ein unmittelbarer Spiegel der eigenen Führungskompentenz. "Wie an der Spitze von Unternehmen geht's hier um Charisma, um das Gefühl für Menschen und um eine klare Ansage", erklärt Coach Greve. "Es hat mich schon ziemliche Überwindung gekostet", gibt Tilman Kriesel, Projektleiter der Hamburger Gator GmbH, zu. "Aber ich habe dann gelernt: Je mehr ich mich so verhalte, wie ich mich fühle, desto besser klappt es mit der Führung des Orchesters."

Für seinen Job nimmt Kriesel die Einsicht mit, dass er Projektteams weniger im Detail steuern sollte, sondern mehr Wert auf die Akzente und die große Linie legen muss. Genau das ist nämlich die Aufgabe des Dirigenten. "Ein gutes Orchester kann sein Repertoire komplett ohne Dirigenten spielen", erklärt Geschäftsführer Reichart. "Aber eine stimmige Interpretation der Musik kann nur eine Person liefern - der Dirigent." So lasse sich aus routinierten technischen Abläufen jedes Mal etwas Neues schaffen.

"Der Dirigent sagt klar, was er will, die Musiker wissen, wie es geht, und erst gemeinsam wird es möglich, Großes zu leisten. Man gewinnt eine ungeheure Klarheit darüber, was Führung ist: Nicht nur Sagen, sondern Tun, ja sogar Vormachen", sagt Gustav Greve. "Dabei wird Führen umso wichtiger, je weniger der Chef die Materie im Detail beherrscht", hat Christiane Diekmann, Strategieberaterin bei Roland Berger, erkannt.

Jenseits aller Führungsreflexion ist es die reine Freude, einmal nicht vor der HiFi-Anlage mit den Händen zu wedeln, sondern ein Profi-Orchester zu leiten. Unvergessliche Momente, ein intensives Flow-Erlebnis. Klassische Musik wird nicht mehr so sein wie vorher. Führung auch nicht.