Architektur, Spitzendesign, Tanztheater, Eislaufbahn - zwei Hamburger machen VW-Auslieferung in Wolfsburg zu erfolgreichem Freizeitpark.

Die autofreie Stadt ist der Wunschtraum vieler Umweltaktivisten und Sozialphilosophen. Ausgerechnet die Autostadt des Volkswagen-Konzerns in direkter Nachbarschaft des Wolfsburger Stammwerks hat diesen Traum weitgehend verwirklicht. Auf den ersten Schritten in die großzügig verglaste, 26 Meter hohe Eingangshalle wähnt sich der Besucher in einem Museum für moderne Kunst. An der Decke hängt ein Gitter-Globus aus Aluminium von beeindruckenden Dimensionen. Unter ihm sind in einer Art Bassin 80 bunte Weltkugeln installiert, auf denen statistische Angaben zu unterschiedlichen Probleme der globalen Gesellschaft grafisch dargestellt sind. Von Autos fehlt hier jede Spur. Tritt man aus dem Empfangsbereich hinaus ins Freie, folgt die nächste Überraschung: eine Parklandschaft, durchzogen von Teichen und Wasserläufen, verstreut stehen dort pavillonartige Gebäude unterschiedlicher Gestaltung - eine Architekturausstellung vielleicht?

Zwar ist die Autostadt das größte Pkw-Auslieferungszentrum der Welt; seit der Eröffnung im Jahr 2000 wurden hier 1,9 Millionen Fahrzeuge an die Kunden übergeben. Doch davon sieht man praktisch nichts. Durch ein Tunnelsystem werden die Autos vollautomatisch in zwei 48 Meter hohe Glastürme transportiert. Ist der Käufer eingetroffen, gelangen die Wagen aus ihren transparenten Hochregallagern ebenfalls unterirdisch in das Auslieferungsgebäude. Gemessen an den Gästezahlen ist diese Funktion der Autostadt allerdings nur Nebensache: "Drei Viertel unserer Besucher kommen nicht im Zusammenhang mit einer Fahrzeugabholung", sagt Otto Ferdinand Wachs. Der Hamburger ist seit ihrer Gründung der Chef der VW-Tochtergesellschaft.

Mit bis heute mehr als 25 Millionen Gästen - 2012 wurde ein neuer Rekord von knapp 2,3 Millionen erreicht - ist die Autostadt einer der erfolgreichsten Freizeitparks in Europa. Fünfeinhalb Stunden verbringen die Gäste dort im Schnitt, und fast jeder dürfte im sogenannten ZeitHaus gewesen sein. Im besucherstärksten Automuseum der Welt stehen Meilensteine der Pkw-Entwicklung auf mehreren Etagen recht nüchtern nebeneinander aufgereiht - ungeachtet des Herstellers.

Dagegen sind die Pavillons im Park, intern "Tempel" genannt, den Marken des VW-Konzerns gewidmet. Hier sind zwar auch Autos zu sehen, in einigen Fällen jedoch als ein Element einer künstlerischen Performance: Ein Bugatti Veyron mit fast durchgängig spiegelnder Außenhaut wird in einem rundum verspiegelten Raum zur Schau gestellt, ein Lamborghini Murciélago ist als wildes Tier in einem Käfig inszeniert, untermalt von ohrenbetäubendem Motorengebrüll und dramatischen Lichteffekten.

"Was wir schaffen wollten, ist eine Einheit von Architektur, Design und Kunst", sagt Maria Schneider. Die promovierte Sprachwissenschaftlerin ist die Kreativdirektorin der Autostadt mit Wohnsitz in Wolfsburg und in Winterhude. Das Ziel sei es, nicht nur autobegeisterte Männer, sondern Familien anzusprechen. So gibt es für Schlittschuhläufer bis Ende Januar eine Eislauffläche - die Wintermonate sind ohnehin die besucherstärksten des Jahres.

Die Betonung des Faktors Ästhetik erleichtere den Zugang für Frauen, sagt Maria Schneider. Nicht weniger als neun Restaurants gibt es auf dem Gelände. Die Spanne reicht vom Selbstbedienungs-Bistro bis zum Gourmet-Treff Aqua, ausgezeichnet mit drei Michelin-Sternen, im Hotel Ritz-Carlton. Die Nobelherberge ist der Autostadt angeschlossen und erreicht regelmäßig eine der höchsten Auslastungen dieser Hotelkategorie in Deutschland.

Besonders schwer herzustellen ist die Verbindung zu VW und zum Auto bei Veranstaltungsreihen der Autostadt wie dem Tanzfestival "Movimentos" oder den Konzerten mit Stars wie Sting, B.B. King oder Peter Gabriel. Leitmotiv aller Aktivitäten seien die Werte, für die der Volkswagen-Konzern stehe, sagt Maria Schneider: Qualität, Sicherheit, soziale Verantwortung und Umweltbewusstsein. In der mit Designpreisen ausgezeichneten Ausstellung "Level Green" erfährt der Besucher auf anschauliche Weise zum Beispiel, dass für die Produktion einer Jeans 8000 Liter Wasser nötig sind. Aber auch die Umweltbelastungen durch das Auto werden nicht ausgeblendet; schließlich ist den Machern der Autostadt sehr bewusst, dass sie nur allzu leicht in den Verdacht des "Greenwashings" kommen könnten.

Daher nehme man das eigene Umweltengagement sehr ernst, sagt Maria Schneider: "Wir sind Partner von Bioland und beziehen die Produkte für die Restaurants von zertifizierten Höfen." Einige von ihnen hätten erst auf Ökolandbau umstellen können, nachdem sie die Autostadt als verlässlichen und langfristigen Abnehmer gewinnen konnten. Nicht nur Nudeln und Brot werden im eigenen Haus hergestellt, sondern auch das Speiseeis, obwohl die Restaurants vom Eisspezialisten Mövenpick betrieben werden: "Das Unternehmen konnte nicht garantieren, dass das Eis gentechnikfrei ist."

Spätestens wenn er beim Essen die Eindrücke sortiert, wird so manchem Besucher eine Eigentümlichkeit der Autostadt auffallen, die sie von anderen Auto-"Erlebniswelten" etwa bei Daimler oder BMW deutlich unterscheidet: Nirgendwo drängen sich die Firmenzeichen von VW und den anderen Konzernmarken auf - im Gegenteil: Sie werden vermieden, wo es nur möglich ist. "Die Gäste wissen selbst, dass sie auf dem Gelände von VW sind, das muss man ihnen nicht an der Tür sagen", erklärt Maria Schneider. Das Logo der Autostadt selbst zeigt allerdings in stilisierter Form die Umrisse des Retro-Autos New Beetle.

Die Verbindung liegt nahe, denn beide entstanden etwa gleichzeitig und aus dem gleichen Geist: In den 1990er-Jahren erkannte der damalige VW-Chef Ferdinand Piëch, dass beim Autokauf künftig mehr als zuvor die Emotion entscheiden werde. Er sah den kugeligen New Beetle, der die unverkennbaren Linien des VW Käfers aufnahm, als ein solches "emotionales" Auto. Das Marketing des neuen Lifestyle-Typs jedoch war eine Gratwanderung. Denn man wollte nach vorn blicken, nicht zurück - nicht auf die lange Reihe der Brot-und-Butter-Autos von VW und auch nicht auf die Entstehungsgeschichte des Käfers und des Unternehmens im Dritten Reich: In den Kriegsjahren standen Baracken für Zwangsarbeiter auf dem Gelände der heutigen Autostadt.

Zwar hatte Piëch sie ursprünglich als Abholzentrum mit angeschlossenem Museum erdacht, aber das änderte sich schnell. Angesichts der für das Jahr 2000 geplanten Expo in Hannover entschied der Konzernchef, in Wolfsburg gleichzeitig so etwas wie eine eigene kleine Weltausstellung zu schaffen. Ein Stab von 400 Experten und Beratern aus aller Welt entwickelte das Konzept für die 425 Millionen Euro teure Anlage. So mancher Einheimische nahm die Autostadt anfangs jedoch als Fremdkörper in der Region wahr - so als sei ein Ufo neben dem VW-Werk gelandet. In einer Gegend, die nur ein paar Jahre zuvor im sogenannten Zonenrandgebiet lag, hielt nun internationaler Chic Einzug. Man wurde von psychologisch geschulten Mitarbeitern mit professioneller Freundlichkeit empfangen - alles in allem weckte die Autostadt zwiespältige Empfindungen.

Auch der Marketingexperte Andreas Pogoda, Gesellschafter der Brandmeyer Markenberatung in Hamburg, ist nicht restlos überzeugt von dem Konzept. Es gelinge zwar offensichtlich sehr gut, auch Menschen, die nicht schon ohnehin große Sympathien für VW hegen, nach Wolfsburg zu locken, sagt er. "Aber das Erste, was ich empfehlen würde, ist eine viel stärkere Markenanbindung. Man muss den Menschen sagen: Willkommen bei VW."

Allerdings scheint der Erfolg den Autostadt-Machern recht zu geben. Es kommen doppelt so viele Gäste wie einst geplant. Mit einem Jahresumsatz von geschätzt rund 50 Millionen Euro trägt die Volkswagen-Tochter zwei Drittel ihrer laufenden Kosten selbst. Hinzu kommt: Bei VW rechnet man damit, dass ein Besuch in der Erlebniswelt mindestens jeden 200. Gast dazu bringt, ein Auto der Markengruppe zu kaufen. "Addiert man die Umsatzerlöse und den Betrag der Fahrzeugverkäufe, so ist die Autostadt deutlich profitabel", sagt Wachs. Doch auch das ist noch nicht alles. Die Autostadt hat zu einem Wandel beigetragen, der sich in einem kleinen Detail am Heck der neuesten Ausführung des Beetle zeigt: Man kann ihn jetzt auch mit dem Typenschild "Käfer" bestellen. So viel Selbstbewusstsein hatte VW vor zwölf Jahren noch nicht.