Altkanzler Helmut Schmidt diskutiert mit Finanzminister Schäuble und warnt vor revolutionären Tendenzen in Europa. 600 Gäste im Michel

Hamburg. Die würdevolle Ausstrahlung des Gebäudes entspricht ganz der Ernsthaftigkeit der Themen. Im Kirchenschiff des Hamburger Michel stand gestern nichts weniger als die Zukunft Europas, des Euro, aber auch die Verantwortung der Banken und Unternehmen für die Gesellschaft zur Diskussion. Auf dem Podium - direkt neben der Kanzel - präsentierten prominente Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ihre Einschätzungen, auf den Holzbänken folgten rund 600 Gäste beim vierten Wirtschaftsforum der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" den Standpunkten. Es waren ein Austausch interessanter Gedanken und Prognosen kluger Köpfe.

Altkanzler Helmut Schmidt (SPD), der knapp eine Stunde lang mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) über Europa diskutierte und dabei durch kleine Seitenhiebe die Zuhörer häufig zum Schmunzeln brachte, warnte gar vor tief greifenden Veränderungen in den nächsten Jahren. "Wir stehen am Vorabend der Möglichkeit einer Revolution in Europa", sagte Schmidt. Wie diese konkret aussehe? "Das weiß ich selber nicht. Aber ich spüre, dass wir in einer unsicheren Situation sind und die Mehrheit der öffentlichen Meinung von Spanien, Italien bis nach Finnland und auch Deutschland ihr Vertrauen in die europäische Vereinigung abgebaut hat." Und der Vertrauensverlust sei noch nicht am Ende. Auch in China und in den USA sei die Situation von Unsicherheiten geprägt und revolutionäre Veränderungen nicht ausgeschlossen.

Ein Ende der Krise ist für Schmidt noch nicht absehbar. "Wir stecken mittendrin in einer Staatsschuldenkrise und wir sind außerdem in einer Weltrezession." Statt eines klaren Weges "wählen wir die Methode des Durchwurstelns, und dies werden wir noch zwei, drei Jahre tun." Dies meinte Schmidt keineswegs nur abschätzig. Zum "Durchmogeln" - oder der Methode des "Muddeling-Through" - wie Schmidt den Begriff sprachlich variierte, gehöre auch, nicht alle Regierungsabkommen einzuhalten. Und er spielte damit auf manche Überschreitung der Maastricht-Verträge durch die EZB-Notenbankchefs Mario Draghi und Jean-Claude Trichet an, deren Handeln er ausdrücklich lobte. "Ich bin weiß Gott ein Anhänger des Rechtsstaats, aber zum Beispiel während der Hamburger Flutkatastrophe haben wir auch nicht in die Verfassung geguckt. So ist das auch in einer Geldkrise und ebenfalls in einer Rezession. Keine Revolution richtet sich nach der Verfassung." Es sei aber auch durchaus wahrscheinlich, dass sich die Europäer aus der Krise herausmogelten und in einigen Jahren wie Phönix aus der Asche kommen.

Schmidt lobte den Euro als stabile Währung, selbst die Inflation war zu D-Mark Zeiten höher. "Wenn wir heute statt des Euro noch die D-Mark hätten, wäre die D-Mark durch die Decke dieser Kirche hinauf aufgewertet worden."

Den deutschen Exportüberschuss kritisierte Schmidt als "absolut ungesund" und als "Verstoß gegen die weltökonomische Vernunft". Vielmehr sollten die Deutschen etwas mehr Geld ausgeben oder nicht so hart arbeiten. Fragwürdig sei auch die Sonderrolle Deutschlands als drittgrößter Waffenexporteur der Welt. Während seines Auftritts verzichtete Schmidt, der eigentlich immer und überall raucht, auf seine Mentholzigaretten - und blieb bei Cola. Schließlich machte der Altkanzler, der sich als Skeptiker bezeichnet, allen Mut: "Viele Fehler addieren sich am Ende zu einem Plus. Es gibt keinen Grund, dass wir pessimistisch sind."

Bundesfinanzminister Schäuble konnte und wollte sich im Gespräch nicht so provokant positionieren wie sein Gegenüber. "Sie können nicht verlangen, dass ich als Regierungsmitglied eine Revolution vorbereite, und wenn, dann würde ich es nicht sagen." Schäuble hob angesichts der globalisierten Welt die Bedeutung der Gemeinschaftswährung hervor. "Wenn wir keine europäische Währung hätten, dann müssten wir sie erfinden." Schäuble sieht Europa auf dem Weg, die Krise schrittweise zu lösen und das Vertrauen auf den Märkten zurückzugewinnen. Es sei bereits einiges bewegt worden, wenngleich man noch nicht über den Berg sei.

Durchaus selbstkritische Töne gab es unterdessen von dem neuen Co-Vorstandschef der Deutschen Bank, Jürgen Fitschen, der einst in Hamburg eine Lehre im Groß- und Außenhandel absolvierte. "Die Banken haben erhebliche Schuld auf sich geladen, hätten die Krise alleine aber nicht herbeiführen können." Kernproblem sei die wachsende Verschuldung weltweit, die sich in den vergangenen Jahrzehnten verdreifacht habe. "Nur Geldverdienen ist heute keine Option mehr." Gleichzeitig sei die Gewinnerzielung ein wirtschaftliches Grundprinzip von Unternehmen. Fitschen wies die Behauptung deutlich zurück, die Deutsche Bank sei schon deshalb gefährlich, weil sie eine systemrelevante Bank ist. "Gefährlich sind wir nicht und waren wir nicht. Wir mussten den Staat nicht um Hilfe bitten und werden dies auch nicht."

Der Hauptpastor Alexander Röder freute sich ausdrücklich über das Treffen in der Hauptkirche St. Michaelis. "Die Kirche will sich einmischen und sucht den Dialog mit der Wirtschaft und Politik. Die Diskussionen zeigen, dass auch die Verantwortlichen mit der Suche nach der Wahrheit ringen, um etwas zum Wohle der Menschheit zu tun."