DGB-Chef Sommer warnt vor sozialen Unruhen. Wütende französische Beschäftigte wollen bei Continental-Hauptversammlung heute in Hannover gegen Werksschließungen protestieren.

Ein bisschen wird die Atmosphäre heute in Hannover so sein wie beim Fußball - ein bisschen angespannt. Beamte werden die "französischen Gäste" am Hauptbahnhof in Empfang nehmen und auf Flugblättern um Mäßigung bitten, ließ die Polizei in der niedersächsischen Hauptstadt gestern wissen. Die "französischen Gäste" sind allerdings keine Hooligans, sondern rund 1200 wütende Mitarbeiter aus dem Continental-Reifenwerk im nordfranzösischen Clairoix. Dieses Werk wie auch die Reifenfabrik in Hannover will der Automobilzuliefer-Konzern angesichts der schweren Wirtschaftskrise schließen.

Die Franzosen, vereint mit bis zu 1800 deutschen Conti-Kollegen, wollen gegen diesen Plan bei der Hauptversammlung des Konzerns ordentlich Dampf ablassen. Dass sie das können, haben sie erst in den vergangenen zwei Tagen bewiesen: Sie randalierten in ihrer Fabrik und gestern auch in der Präfektur von Compiègne. "Wir haben alles dafür unternommen, dass so etwas hier nicht passiert", sagte ein Sprecher der zuständigen Gewerkschaft IG BCE gestern in Hannover.

So oder so, es passiert etwas Gravierendes in Europa und in Deutschland, es geschieht eine wirtschaftliche Erosion, von der zurzeit niemand weiß, ob sie auch die Fundamente der sozialen und friedlichen Marktwirtschaft ernsthaft beschädigt. Vor einem Spitzentreffen im Bundeskanzleramt schickte Michael Sommer, der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), gestern eine ungewöhnlich kräftige Warnung an die Parteien der großen Koalition: "Wenn sie sich nicht dazu verständigen, alles zu unternehmen, mit den Gewerkschaften zusammen, mit den Betriebsräten zusammen Beschäftigungen zu stabilisieren, dann drohen auch in diesem Land wirklich soziale Unruhen." Da war es, das böse Wort, aus dem Munde des ranghöchsten deutschen Gewerkschafters. Französische Verhältnisse auch hierzulande? Brennende Autos, Häuser, Vorstädte? Eskalierende Gewalt unter wachsenden wirtschaftlichem Druck? Sommer sieht Gefahr im Verzug: "Auf uns rollt die große Welle der Krise erst zu. Wir müssen energischer gegensteuern"

Wenn es um Randale, spontane Eruption von Wut und Gewalt geht, sind französische Demonstranten den deutschen weit voraus - egal, ob Bauern, Arbeiter oder Studenten. Die Wirtschaftskrise hat auch die französischen Industriearbeiter, die sonst eher gemäßigt agieren, wieder radikalisiert. Viermal nahmen wütende Beschäftigte in den vergangenen Wochen Manager als Geiseln, um gegen geplante Werksschließungen oder Massenentlassungen zu protestieren. Zuletzt traf es am Montag den stellvertretenden Geschäftsführer und die Personalchefin des Autozulieferers Molex im südfranzösischen Villemur-sur-Tarn. Sie wurden am Abend wieder freigelassen. Französische Spitzenfunktionäre finden diese Art, den Protest zu artikulieren, völlig in Ordnung: "Der Streik ist auch eine Form, Druck auszuüben, und die Freiheitsberaubung der Bosse die extreme Form, wenn das die einzige Möglichkeit zu verhandeln ist", sagte Francois Hollande, der frühere Parteichef der Sozialistischen Partei. Bernard Thibault von der Gewerkschaft CGT merkte an: "Ich verstehe diese Aktionen und verteidige sie, solange die Gesundheit der Betroffenen nicht bedroht wird."

Können diese Formen der Gewalt auch nach Deutschland überschwappen, wie DGB-Chef Sommer fürchtet? In ein Land, in dem die Revolutionäre eine Bahnsteigkarte kaufen, bevor sie den Bahnhof stürmen, wie Sowjetführer Wladimir Iljitsch Lenin zu Beginn der 1920er-Jahre spöttisch über die Deutschen sagte?

"Man darf den Unterschied zwischen den Gewerkschaften in Deutschland und in Frankreich nicht verkennen", sagt Professor Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: "Die deutschen Einheitsgewerkschaften sind moderat und auf Verhandlungen ausgerichtet. In Frankreich agieren dagegen ideologisch geprägte Richtungsgewerkschaften."

Experten wie Rucht verweisen darauf, dass Menschen zwar wütend und verunsichert über die Folgen der Wirtschaftskrise seien, dass es aber keinen konkreten Adressaten gebe, um diese Wut loszuwerden - und auch niemanden, der eine breite Protestbewegung zu organisieren vermag: "Die Linkspartei könnte ja theoretisch das Auffangbecken für die Wütenden, für die Verlierer dieser Entwicklung sein", sagt Rucht, "aber die Partei hat wegen ihrer SED-Vergangenheit nach wie vor ein schlechtes Image, sie taugt nicht als integrierende Kraft, die Vorbehalte sind zu groß." Die Gewerkschaften wiederum können nach seiner Einschätzung immer nur jene Mitglieder mobilisieren, die gerade konkret von wirtschaftlichen Rückschlägen oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind: "Das Potenzial ist begrenzt."

So friedlich die Lage in Deutschland nach wie vor ist - niemand vermag die wirtschaftliche Entwicklung der kommenden Monate einzuschätzen, Prognose- und Wirtschaftsinstitute stochern hilflos im Nebel. "Ich glaube, dass es zu relevanten Massenprotesten kommen kann - und dabei kommt es dann meist auch zu Gewalt radikaler Minderheiten, so wie beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm", sagt Sven Giegold, Mitbegründer der Organisation "Attac" in Deutschland und als Wirtschaftspolitiker derzeit für Bündnis 90/Die Grünen auf dem Sprung ins Europaparlament. "Bei den meisten Menschen in Deutschland ist der Abschwung noch nicht angekommen, jedenfalls nicht mit voller Wucht. Was dann passiert, lässt sich aber nicht vorhersagen. Entscheidend wird sein, ob die Gewerkschaften und die Parteien Proteste und Demonstrationen friedlich organisieren können."

Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchte, dem drohenden wirtschaftlichen Absturz in den vergangenen Wochen mit wohldosiertem Optimismus zu begegnen. Mit den jüngsten Konjunkturschätzungen wird das nicht einfacher: Seit gestern rechnet die Bundesregierung offiziell mit einem Rückgang der deutschen Wirtschaftsleistung um fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr, deutlich mehr als bisher. Deutschland stehe ein "schwerer Wirtschaftseinbruch" bevor, sagte Merkel. Sven Giegold sieht nun alle Gesellschaftsteile in der Pflicht, "Brücken zu bauen", damit Gewalt in dieser schwierigen Zeit keinen unnötigen Nährboden finde.