Dreiundsiebzig Jahre hielt er durch. Doch dann, an einem Wintertag ohne Schnee, kurz vor Weihnachten, brachte er sich um.

Darüber spricht man nicht, mit niemandem, schon gar nicht mit einer Fremden. Erst ein halbes Jahr später sagt seine Frau am Telefon: Kennen Sie Hermann Hesses Gedicht Stufen ? Das hilft - vielleicht. Da lebt man so lange nebeneinander - und hat sich nie kennengelernt. Als er zum letzten Mal aus dem Haus ging, winkte er mir zu.

Als er jung war, konnte er sich sein Leben nicht wählen, die Zeit war nicht danach. Er wurde Eisenbahner, nahm eine Frau, die ihm starb, eine zweite, bekam eine Tochter, einen Sohn. So wurde er alt, spielte das Spiel, sprach die Sätze, die andere von ihm erwarteten - und hatte zeitlebens doch

etwas ganz anderes vor. Doch was? Er wusste es selbst nicht. Jedenfalls nicht genau.

Als Rentner unternahm er viel - ohne seine Frau. Verließ morgens das Haus mit einer Aktentasche unterm Arm und versteckte die Bücher, die er sich kaufte, vor ihr. Die ganz teuren ließ er sich per Post zu seinem Sohn schicken. Die Rechnungen überwies er

heimlich. Sie wusste nichts davon - er hatte ein schlechtes Gewissen.

Als er anfing, sich sein Leben zu eigen zu machen, das zu tun, wonach ihm zumute war, wonach er sich immer gesehnt hatte, befiel ihn ein schlechtes Gewissen. Und die Sprache ging ihm verloren, er wurde fast stumm, räumte den Platz, den man ihm zugewiesen hatte, einen neuen einzunehmen traute er sich nicht. Da stand er draußen, bei sich selbst vor der Tür, ein Zusammenleben mit ihm wurde schwierig.

Seine Frau fand die Bücher, auch der Sohn verplapperte sich, sie wollte trösten, alles sehen, lesen, Anteil nehmen. Jetzt, wo die Kinder aus dem Haus waren, sei doch endlich Zeit für alles . . . Jedoch er verweigerte sich.

Denn das war es ja nicht, was er suchte. Lesen. Er bekam Medikamente, immer mehr, wurde schwindelig, fiel um. Seine Frau machte sich Sorgen um ihn.

Das Fenster im Wartezimmer seines Arztes war ihm vertraut. Da hinaus sah man nicht auf die Straße oder in einen Park. Nur ein schmaler Lichtschacht tat sich dahinter auf.

Und als er sich ganz sicher war, dass ihn auch die Bücher nicht über den Verlust all dessen, was er nie besessen, wonach er sich jedoch immer gesehnt hatte, würden hinwegretten können, öffnete er dieses Fenster an einem Wintertag ohne Schnee, wenige Tage vor Weihnachten - ein paar

Minuten allein im Wartezimmer - für sich.


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