Mit Zucker oder ohne, mit Minz- oder Apfelgeschmack, gegen Karies oder für frischeren Atem: Kaugummi ist weltweit in aller Munde. Und auf allen Gehwegen. Warum kaut der Mensch, wo er geht und steht? Dagegen scheint kein Kraut gewachsen - aber vielleicht gegen das Wegspucken.

Wo verlaufen die Haupttrampelpfade des Hamburg-Tourismus? Sie brauchen nur den Kaugummispuren zu folgen. Vom Gänsemarkt über den Jungfernstieg. Rund um den Hauptbahnhof. Über die Landungsbrücken. Aber das ist alles harmlos, verglichen mit der Reeperbahn: Vor dem Operettenhaus beginnt eine Art St.-Lorenz-Strom von Gummiflecken, der am Spielbudenplatz entlang zum Hans-Albers-Platz führt. Gegenüber mehren sich die Kaugummiplacken ab Millerntor, werden vor dem "Eros Laufhaus" fast zur einheitlichen Masse und kleckern dann in die Große Freiheit.

Ähnliche Erscheinungen gibt es auch vor dem Kölner Dom und der Kathedrale von Canterbury, auf den Promenaden von Brighton, Cannes oder Atlantic City. Jede Stadt mit Sehenswürdigkeiten oder Amüsiervierteln hat automatisch auch das Kaugummiproblem. Die Gegenmaßnahmen, Kaugummi-Verkaufsverbote und Dampfstrahler, kosten viel - und nützen wenig.

In Deutschland ist der Kaugummi-Absatz nämlich wieder leicht steigend, freut sich der Deutsche Kaugummi-Verband e. V. Nach Angaben der BASF, Hersteller des Kaugummi-Harzes Oppanol, werden bei uns jährlich 23 000 Tonnen Kaustreifen und -kugeln verkauft, weltweit sind es 870 000 Tonnen. 2006 zahlten die Deutschen rund 539 000 Euro dafür, 35 Prozent der Gesamtausgaben für Süßwaren.

Warum kauen Menschen eigentlich, auch wenn sie gar keine Nahrung zu sich nehmen? Offenbar ist das Kauen ein Gattungsbedürfnis. Das Bewegen der Kiefernmuskeln regt die Versorgung des Hirns mit Blut und Sauerstoff an und ist gleichzeitig ein Mittel, um Stress abzureagieren. In Indien werden Betelnüsse gekaut, auf der arabischen Halbinsel die Blätter des Quat-Strauchs, anderswo beißen Menschen auf Süßholzwurzeln herum oder auf Kautabak, der vor 100 Jahren auch bei uns noch weitverbreitet war. Einige Funktionen dieser oralen Selbstbeschäftigung übernahm im 1. Weltkrieg die Zigarette, sie hielt die Soldaten wach und betäubte Hungergefühle.

Wahrscheinlich wäre die Zahl der Raucher heute viel höher, wäre nicht 1945 mit den amerikanischen GIs auch das Kaugummi zu uns gekommen. Nach seinem beispiellosen Siegeszug durch die Mundhöhlen Westeuropas scheint es auch heute unverzichtbar zu sein. Warum? Weil es eine Reihe von Zweckerweiterungen mitgemacht hat.

Erstens: Kaugummi bremst schlechten Atem. Es regt den Speichelfluss an und neutralisiert damit tatsächlich die Säuren, die Bakterien im Mundraum erzeugen.

Zweitens: Kaugummi wird gesünder. Es gibt Sorten zur Zahnpflege und Karies-Vorsorge, gegen Übelkeit und Reisekrankheit, zum Nikotin-Entzug und zum Zähnebleichen. Schon 75 Prozent aller bei uns gekauften Kaugummis sind zuckerfrei und greifen die Zähne nicht mehr an.

Drittens: Kaugummi ist praktisch. Es überdeckt Grünkohl-, Käse- oder Zwiebelgeschmack, ohne dass man sich nach der Kantine die Zähne putzen muss.

Viertens: Kaugummikauen ist "cool". Diesen Imagewert hat es gerade bei den Hauptkonsumenten, den 16- bis 29-Jährigen. Nur in den letzten Refugien der Etikette wird das Dauerkauen als unpassende "Unterschichten"-Attitüde gewertet: auf Bällen und Empfängen, vor Gericht und bei Prüfungen. Fast überall sonst auf der Welt ist Kaugummi ein Symbol für "westliche Modernität". Sogar in jenen muslimischen Ländern, die die USA für eine Ausgeburt des Satans halten, waren drei Erzeugnisse dieses "Satans" stets hochwillkommen: Air Condition, Pick-up-Kleinlaster und "Chewing Gum".

Dass Leute, die mahlend ihre Kiefer bewegen, als besonders modern, lässig und überlegen gelten, ist eigentlich albern. Aber genau diese Art "Coolness" passt zu unserer Leistungsgesellschaft, die sich als Freizeit-Community tarnt. Ob wir ins Fitnessstudio, zu einer Konferenz, einem Date oder ins "Eros Laufhaus" gehen: Da ist Selbstdarstellung gefragt, da werden Leistungen erwartet. Bin ich fit? Bin ich attraktiv? Bin ich konkurrenzfähig? Wer nervös ist, versucht, seine Nervosität einfach und billig wegzukauen.

Das ist okay, nur: Warum muss das Kaugummi nach getaner Kaumuskelarbeit auf dem Trottoir landen? Oder unterm Cafe-Tisch? Das vermeiden wir zu Hause ja auch. Ethnologisch betrachtet, ist das gedankenlose Wegspucken eins der ungelösten Rätsel menschlicher Zivilisation. Verkaufsverbote wie jetzt am Jungfernstieg greifen zu kurz. Und völlig illusorisch sind sie auf dem Kiez: Wo Enthemmung in Spiel, Vergnügen, Sex, Musik und Alkohol nicht nur erlaubt, sondern wirtschaftlich erwünscht ist, kann man keine kaugummifreie Zone verordnen.

Vielleicht hilft die Rückbesinnung auf den guten alten Spucknapf: Den kannten schon unsere Kautabak mümmelnden Ur- großväter. Und sie benutzten ihn sogar!