Philippe Claudel, Träger des “Prix Renaudot“, erzählt von einer trügerischen Idylle im Weltkrieg.

Gleich hinter der nächsten Hügelkette beginnt der Weltkrieg. Doch solange die Bewohner des Ortes P. im französischen Lothringen noch ein Steinwurf von den Schützengräben trennt, bemühen sie sich, die Bedrohung des Massenmordens aus ihrem Bewußtsein auszusperren.

Philippe Claudel, der für seinen Roman "Die grauen Seelen" in Frankreich mit dem "Prix Renaudot" ausgezeichnet wurde, zerstört das schwache Pflänzchen einer scheinbaren Idylle im Dorf von Anfang an - mit kräftigen Bildern und eiskalter Sprache.

Als ein kleines Mädchen, eine Blüte der Unschuld, "Belle de Jour" genannt, erdrosselt am Kanal gefunden wird, ruft man den Richter - und der ruft nach weichgekochten Eiern, die er gleich neben der Leiche verspeist.

Das Eigelb bleibt kleben in den Barthaaren des dicken Richters. Die Bewohner des Dorfes sind schockiert - vom Mord genauso wie von ihrem Richter.

Diese Bilder bleiben unvergeßlich, gerade weil sie den Erwartungen des Lesers so sehr entgegenlaufen. Denn anstatt daß das Dorf vom Weltkrieg zermalmt wird, zerstört es seine Harmonie von innen heraus. Durch seine eigene Leidensgeschichte und die vielen enttäuschten und vom Tod zunichte gemachten Lieben, von denen dieser Roman erzählt.

Der Leser erfährt all dies in einer bitteren Retrospektive, von einem Erzähler, der Jahrzehnte später und unter dem Einfluß von schwerem Rotwein und starkem Schnaps eine Auseinandersetzung mit den alten Geschehnissen versucht.

Die Resignation des Erzählers, dessen eigene traurige Geschichte erst nach und nach zum Vorschein kommt, schlägt sich dabei in der Unbarmherzigkeit der gewählten Episoden nieder. In denen von der Einsamkeit eines alten Staatsanwalts und dem Unglück einer jungen Lehrerin erzählt wird. Und davon, wie für den Mord an dem kleinen Mädchen ein Schuldiger gefunden werden muß - und ein Unschuldiger sein Leben läßt.

Das Geheimnisvolle, Fesselnde an Philippe Claudels Roman ist die gedämpfte Stimmung. So gelingt es dem Autor, die Personen nicht in einem formlosen Schwarz versickern zu lassen, sondern sie in allen Facetten ihres Graus, ihrer "grauen Seelen" zu erkennen und zu würdigen. Am nächsten Sonntag liest Claudel aus seinem Buch.

Philippe Claudel: Die grauen Seelen , aus dem Französischen von Christiane Seiler, Rowohlt, 239 Seiten, 19,90 Euro. Philippe Claudel liest am 21. November im Literaturhaus am Schwanenwik 38, Beginn: 20 Uhr.