Roman: Aus der Sicht von fünf Zeitzeugen entsteht ein Porträt: An einem Vertriebe- nenschicksal schildert Christoph Hein fünf Jahrzehnte DDR-Geschichte.

Das Leben meint es nicht gut mit Bernhard Haber. Als Zehnjähriger kommt er 1950 nach Guldenberg. Mit seinen Eltern hat er Schlesien verlassen und wurde bei einem Bauern zwangseingewiesen. Leute wie die Habers sind in der sächsischen Kleinstadt nicht gern gesehen: irgendwie andere Deutsche, die komisch sprechen; Vertriebene, denen nur Schlechtes nachgesagt und das Leben schwer gemacht wird.

Sich unter diesen Bedingungen eine neue Existenz aufzubauen erfordert besondere Leidensfähigkeit. Zumal Bernhards Vater sich nach einem Unfall in sowjetischer Kriegsgefangenschaft als einarmiger Tischler durchschlagen muss. Auf Mitleid können die Habers nicht hoffen. Im Gegenteil: Bernhards Hund wird mit einer Drahtschlinge erdrosselt, die Scheune, in der sich der Vater eine primitive Werkstatt eingerichtet hat, wird von einem Brandstifter angezündet.

"Landnahme" lautet der Titel von Christoph Heins neuem Roman. Tatsächlich scheint es, als müssten sich die Fremden einen Platz in ihrer neuen Heimat erst erobern gegen feindselige "Ureinwohner", die in ihrem Hass auch vor Mord nicht zurückschrecken.

Eine Art Landnahme ist auch die Lektüre dieses Buches. In kleinen Schritten muss der Leser sich auf fremdem Terrain zurechtfinden. Er sammelt Informationen, aus denen sich ein Bild von Bernhard zusammenfügt. Doch Vorsicht ist geboten, denn der Autor ist raffiniert: Christoph Hein spricht in fünf Zungen, um diese eine Geschichte zu erzählen. Er lässt fünf Menschen von sich reden, die Bernhards Lebensweg gekreuzt haben - entsprechend facettenreich und trügerisch gerät dessen Porträt.

Es ist Heins Geschick, dass der Leser den fünf Zeitzeugen vertraut, als seien es gute Bekannte. Der Apothekerssohn, der nach Berlin gegangen ist, erinnert sich an die schwierige Schulzeit Bernhards. Andere erzählen mehr von sich, Bernhard ist in ihren Erinnerungen nicht die Hauptfigur. Die Friseuse Marion, seine erste Freundin, blickt auf ein freudloses Leben zurück, dem Bernhard eine andere Richtung hätte geben können, was ihr aber auch im Nachhinein als wenig reizvoll erscheint. Kindheits-Kumpel Peter wiederum berichtet von gemeinsamen kleinen Diebstählen, von seiner Autoschlosser-Lehre und einer verkorksten Beziehung mit Kind, bis er Bernhard wiederbegegnet und von ihm als professioneller Fluchthelfer angeheuert wird. Peter wird gefasst und landet im Gefängnis. Katharina, die Schwester von Bernhards Verlobter Rieke, hat ein Auge auf den Schwager geworfen und verführt ihn. Und Sigurd Kitzerow, der Sägewerksbesitzer, gehört zu den Honoratioren von Guldenberg, die Bernhard, der die größte Tischlerei am Ort aufbaut, am Ende als einen der Ihren annehmen.

En passant werden fünf Jahrzehnte DDR-Geschichte erzählt. Doch die großen Ereignisse wie Ost-West-Konflikt und Mauerbau kommen in dem fiktiven Städtchen nur als ferner Widerhall an: Eine Kartoffelkäferplage von alttestamentarischen Ausmaßen ist den Kleinstädtern näher als der Aufstand vom 17. Juni. Gäbe es nicht massive Einschnitte wie die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft, könnte Guldenberg auch eine verschlafene Provinzstadt im Westen sein.

Den Ton gibt in Guldenberg ein kleiner Kreis von Männern an, die im Kegelclub organisiert sind. Das missfällt der SED zwar, aber wirklich tun kann sie nichts, denn selbst die Stasi-Berichte über diese Zusammenkünfte werden von diesen Honoratioren kontrolliert. Nach der Wende wird der Club umgewandelt in den Karnevalsverein Grün-Gold-Guldenberg. Bernhard Haber ist inzwischen längst dabei: "Er war einer von uns, auch wenn er ein Vertriebener war."

Christoph Hein: Landnahme. Suhrkamp, 360 Seiten; 19,90 Euro.