Die 21-jährige Lena Wanders beschreibt ihre erschütternden Erlebnisse während der Loveparade-Tragödie in Duisburg, bei der 20 Menschen starben.

Duisburg. Mit 20 Freunden wollte Lena Wanders auf der Loveparade Spaß haben, den ganzen Tag feiern. Schon in den vergangenen Jahren war die Recklinghausenerin, die seit zwei Jahren in Hamburg studiert, bei den Party-Umzügen in Dortmund und Essen dabei. Hautnah hat sie die Katastrophe in Duisburg miterlebt.

Dem Abendblatt schildert die 21-Jährige, was sie am Sonnabend erlebt hat:

„Wir haben uns um 15 Uhr in Duisburg am Hauptbahnhof getroffen, Freunde aus dem gesamten Ruhrgebiet waren gekommen. Gegen 16 Uhr standen wir dann vor dem Tunnel, um auf das Party-Gelände zu kommen. Als wir ankamen, war der Tunnel schon zu. Abgesperrt. Für uns war das kein Problem, da auch davor Musik gespielt wurde und wir dann halt dort gefeiert haben. Alles war normal. Zwar voll, aber normal.

Plötzlich hieß es: ‚Der Tunnel ist auf‘, und wir sind mit hineingestürmt. Wir haben uns total gefreut, hatten aber keine Ahnung, ob die Polizei die Absperrungen aufgemacht hat oder ob – wie es die Runde machte – die Sperren einfach durchbrochen wurden. Es war uns auch egal. Im Tunnel wurde es dann immer voller und voller.

Einige Meter von uns entfernt fingen die Leute dann schon an, an den Wänden hochzuklettern. Sie versuchten der Enge zu entkommen, stiegen aufeinander, versuchten sich irgendwie selbst zu retten. Mithilfe von Polizisten wurden Leute über eine Treppe hochgezogen. Einige sind wieder runtergefallen, wurden an Armen und Beinen hochgerissen. Mädchen haben geheult und geschrien. Durch die laute Musik gingen die Schreie aber unter. Eigentlich wollten wir dann auch die Treppe hoch, aber meine Freundin sagte: ‚Lena, da gehen wir nicht hin, da ist es zu voll!‘ Ihr Bauchgefühl war unser Glück. Wir sind dann auf der anderen Seite eine Rampe hochgegangen und entkamen so dem Schlimmsten.

Plötzlich stolperten wir über einen regungslosen Typen, der auf dem Boden lag. ‚Der ist tot!‘, sagte ein Freund. ‚Nie im Leben‘, habe ich geantwortet – ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Leider hatte er recht. Jetzt wurde uns klar, was gerade um uns herum passierte. Wir mussten weg. So schnell wie möglich. Das war alles, woran ich denken konnte.

Die Szenen, die sich dann abspielten, werde ich nie vergessen. Dieser Überlebenskampf der Eingequetschten, diese verzerrten Gesichter.… Das geht einem nicht mehr aus dem Kopf. Wären wir nur fünf Minuten später gekommen, wären wir mittendrin gewesen. So haben wir es aber geschafft, auf der anderen Seite auf eine Rampe zu kommen, wo es zum Glück noch nicht so eng war.

Auch eine Freundin von mir brauchte ärztliche Hilfe. Erst nachdem der Tunnel von einer riesigen Polizeistaffel geräumt wurde, durfte sie mit Begleitung durch, um behandelt zu werden. Der Tunnel war dann leer. Drinnen waren Verletzte aufgebahrt. Einer hatte sich beide Oberschenkel gebrochen, andere hatten Quetschungen am Kopf. Meine Freundin mittendrin. Und die Toten waren zugedeckt.

Zum Glück wusste ich, dass keinem meiner Freunde etwas passiert ist. Alle waren rechtzeitig aus dem Pulk entkommen. Aber niemand wusste, wo ich bin. Meine Eltern saßen nervös zu Hause, haben über eine Hotline versucht, an Informationen zu kommen. Meine Schwester war fix und fertig. Sie hatten die Bilder im Fernsehen gesehen. Niemand konnte mich erreichen, das Handynetz war völlig überlastet. Kaum hatte ich kurz Empfang, prasselten die SMS ein: ‚Geht’s dir gut?‘, ‚Lena, melde dich!‘ und ‚Komm da weg!‘. Zurückschreiben konnte ich aber nicht. Diese SMS haben meine Panik noch verschlimmert. So ganz genau wusste ich halt nicht, was um mich herum passierte. Eine Freundin konnte dann ihren Vater erreichen.“

(aufgezeichnet von Andreas Pröpping)

Niemand will schuld sein

Nach der Katastrophe bei der Duisburger Loveparade verdichten sich die Hinweise auf fatale Fehler der Planer. Gegen die Stadt, die Polizei und den Veranstalter gab es neue massive Vorwürfe. Einem Zeitungsbericht zufolge soll Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) die Parade trotz Bedenken von Feuerwehr und Polizei nur Stunden vor ihrem Beginn genehmigt haben. Loveparade-Organisator Rainer Schaller sagte, das Unglück könnte durch eine verhängnisvolle Anweisung der Polizei ausgelöst worden sein. Statt der Duisburger Polizei ermitteln jetzt die Beamten in Köln zur Aufklärung des Unglücks. Am Montag erlag eine 21-Jährige ihren Verletzungen – sie ist das 20. Todesopfer. Sauerland wehrte sich gegen Kritik und lehnte einen Rücktritt ab.

Nach Informationen der „Kölnischen Rundschau“ (Dienstag) aus Kreisen der Polizei soll Sauerland die ordnungsbehördliche Erlaubnis erst am Samstagmorgen um 9 Uhr erteilt haben. Da waren aber schon unzählige Raver auf dem Weg zu der Party, bei der später 20 Menschen bei einer Massenpanik starben und Hunderte verletzt wurden. Noch am Freitag soll dem Bericht zufolge in verschiedenen Sitzungen über das Sicherheitskonzept debattiert worden sein. Dabei sollen die Duisburger Berufsfeuerwehr und Polizisten erneut deutlich gemacht haben, dass die Großveranstaltung so nicht stattfinden könne.

Schaller äußerte sich am Montag erstmals ausführlich zu der Katastrophe. So habe die Polizei die Anweisung gegeben, alle Schleusen vor dem westlichen Tunneleingang zu öffnen. Zuvor habe man bis 14 Uhr insgesamt 10 der 16 Schleusen geschlossen gehalten, weil bereits eine Überfüllung des Tunnels drohte. Dann aber sei der Hauptstrom der Besucher unkontrolliert in den Tunnel geströmt.

Loveparade-Tragödie: Eva Herman vermutet Strafe Gottes

Das nordrhein-westfälische Innenministerium schaltete derweil die Polizei in Köln ein, um Befangenheit bei Duisburger Kollegen zu vermeiden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung gegen Unbekannt. Es geht um mögliche Planungsfehler im Sicherheitskonzept der Techno-Party.

Ein internes Dokument aus Duisburg belegt nach Informationen von „Spiegel Online“ Schwachstellen des Sicherheitskonzepts bei der Großveranstaltung. So habe der Veranstalter nicht die sonst vorgeschriebene Breite der Fluchtwege einhalten müssen. Zugleich sei das Gelände ausdrücklich nur für 250.000 Menschen zugelassen gewesen.

Der Tod der Technofans sorgte weiter für Schock und Trauer. In der Nähe der Unglücksstelle an einem Tunnel trauerten am Montag zahlreiche Menschen. Der Bürgersteig war gefüllt mit Grablichtern, Blumen, Plüschtieren und Briefen. Immer wieder wurde auch dort die Frage gestellt, ob die Planer ihre eigenen Ziele über die Sicherheit der Teilnehmer gestellt hatten. Die Ermittlungen stünden noch am Anfang, sagte Staatsanwalt Rolf Haverkamp in Duisburg. „Es haben sich jede Menge Zeugen gemeldet, die werden auch alle vernommen.“ Von den 510 Menschen, die am gesamten Partytag verletzt wurden, mussten 283 in Krankenhäusern behandelt werden. Mehr als 40 von ihnen lagen am Montag noch in Kliniken.

„Heute und in den nächsten Tagen muss es darum gehen, die schrecklichen Ereignisse aufzuarbeiten und die vielen Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenzufügen“, schrieb Sauerland in einer persönlichen Erklärung. Die Stadt Duisburg werde die Staatsanwaltschaft unterstützen. „Wenn sich die Stadt etwas vorzuwerfen hat, dann werden wir Verantwortung übernehmen.“ An die Angehörigen der Opfer gewandt erklärte er: „Die Stadt trauert mit Ihnen, auch ich ganz persönlich.“

Anzeige gegen Oberbürgermeister Sauerland

Gegen Sauerland sowie leitende Beamte der Stadt und die Veranstalter erstattete der ehemalige Bochumer Polizeipräsident Thomas Wenner (62) persönlich Anzeige. Der Oberbürgermeister war am Sonntag von Trauernden körperlich angegriffen worden. Er wurde ausgebuht, beschimpft, ein Mann habe ihn mit Müll beworfen und getroffen, berichtete die „Bild“-Zeitung. An der Spitze der Kritiker des Sicherheitskonzepts der Techno- Parade steht die Deutsche Polizeigewerkschaft. „Ich habe vor einem Jahr Duisburg als ungeeignet für die Loveparade abgelehnt und bin dafür als Spaßverderber und Sicherheitsfanatiker beschimpft worden“, sagte der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft, Rainer Wendt. „Aber die Verantwortlichen waren besessen von der Idee, etwas für diese gebeutelte Stadt zu tun.“ Für Konzertveranstalter Marek Lieberberg führten Profilierungssucht der Stadt und eine amateurhafte Organisation zur Katastrophe. Das „war keine höhere Gewalt wie ein Treppeneinsturz oder ein Unwetter, sondern das Ergebnis eines verhängnisvollen Zusammenwirkens von völlig überforderten Behörden und inkompetenten Organisatoren, die weder mit derartigen Großveranstaltungen vertraut noch in der Lage waren, auf Notsituationen zu reagieren“, teilte Lieberberg mit.

Loveparade-Macher Schaller wies Vorwürfe zurück, Sicherheitsvorschriften missachtet zu haben. „Wir haben nie Druck auf eine Herabsetzung der Sicherheit ausgeübt. Nach derzeitigem Stand haben wir sämtliche Auflagen erfüllt. Das gesamte Konzept war in jedem Punkt in wöchentlichen Sitzungen mit Polizei, Feuerwehr und Stadt abgestimmt“, sagte der 41-Jährige. Die Polizei widersprach früheren Berichten, wonach am Samstag 1,4 Millionen Menschen zum Techno-Rave in die Stadt gekommen waren. Dies sei „rechnerisch unmöglich“, sagte Polizeisprecher Ramon van der Maat. So viele Menschen hätten weder mit den bestehenden Verkehrsmitteln noch in der zur Verfügung stehenden Zeit anreisen können. Schaller betonte, das Gelände sei nie überfüllt gewesen. Es seien etwa 187.000 Menschen auf dem Partyareal gewesen. Selbst mit weit weniger Gästen als anfangs angegeben sei die Planung mit dem Schleusensystem im Zugang zur Partyzone unrealistisch gewesen, berichteten Abgeordnete aus dem NRW-Landtag. Der Veranstalter sei davon ausgegangen, dass pro Stunde 30.000 Menschen aus westlicher und östlicher Richtung auf das Gelände geleitet werden könnten.

Möglicherweise werden Fehlleistungen bei der Vorbereitung der Loveparade auch Gegenstand einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Die Einrichtung eines solchen politischen Gremiums hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion verlangt. Die Bundesregierung zeigte sich offen für Konsequenzen, warnte aber vor voreiligen Schlüssen. Auch Trauernde selbst fanden deutliche Worte für ihre Erschütterung: „Und keiner hat Schuld – jeder Vollidiot hätte es besser gewusst“, hat jemand in Druckbuchstaben auf ein Stück Pappe vor dem Unglücks-Tunnel gemalt.