Bauer Naoto Matsumura versorgt die Tiere, die in einem Sperrgebiet bei Fukushima zurückblieben. Und ist bereit, dafür zu sterben.

Tokio. Japanischen Männern werden die Stimmen rau, wenn sie sich in Zorn reden und Bitterkeit ihre Züge zu einem Hohnlachen verzerrt. „Welch ein Lügner!“ bellt Naoto Matsumura, 53, und grinst, „mein Cousin, der für Tepco in den Atomkraftwerken arbeitete und seine Familie sofort evakuierte, log mir ins Gesicht, als er sagte, in zwei Tagen sei alles wieder normal. Schrecklich!“ Über die Dreistigkeit der Lüge kommt Matsumura auch nach zwei Jahren Einsamkeit nicht hinweg. Er ist der letzte Mensch in der kontaminierten Stadt Tomioka. Zu lachen hat er nichts.

Nahezu 16.000 Einwohner wurden am Morgen des 12. März 2011 nach der Katastrophe von Fukushima evakuiert. Auch Naoto Matsumura und seine Familie. Allein kehrte er zurück. Der Reisbauer hütet, was in Tomioka, in der 20-Kilometer-Sperrzone, noch lebt. Ein paar Hunde, ein Dutzend Kühe, zwei Strauße. Matsumura ist bereit, in seiner verseuchten Heimat zu sterben. „Sie sind der Champion“, gratulierte ihm ein Strahlenmediziner an der Tokioter Universitätsklinik sarkastisch nach der Untersuchung: „Sie sind der am meisten verstrahlte Mensch in Japan. Aber krank werden Sie erst in 30, 40 Jahren.“

Das wollte Matsumura gern glauben, obwohl es eine Lüge sein könnte: „Bevor ich an der Verstrahlung sterbe, bin ich schon tot.“ Er hat noch lange nicht vor zu sterben. Naoto Matsumura hat eine Mission: Er will als Mahnmal der Lügen von Fukushima dienen. Lügen der Regierung, Lügen des Betreiberkonzerns Tepco: „Die Angestellten dort wurden indoktriniert, das ist wie ein Kult“, erzählt er und lacht wieder rau. „Die waren wirklich überzeugt, dass die AKWs sicher wären. Als der erste Meiler explodierte, glaubten die, eine Rakete sei eingeschlagen: eine Rakete aus Nordkorea.“

Ein knapp 19 Minuten langer japanischer Dokumentarfilm, „Alone in the Zone“, macht Naoto Matsumura nun zu einem bescheidenen YouTube-Star. Wie der todgeweihte Samurai, der in aussichtsloser Lage sich sinnlos opfert und verweht wie die Kirschblüte, so hat der Widerstandsgeist des Bauern Matsumura Format. Ein Mann, der umgeben von Tod und Stillstand der Sperrzone Leben abtrotzt. Viel ist es nicht. Essen aus Konserven, die er außerhalb besorgt, das Wasser ist knapp; sein Vieh weidet auf den Reisfeldern früherer Nachbarn. Etwas Geld kommt über eine Facebook-Spendenseite. Die Tiere sind ihm so viel wert wie Menschen. Ohne seine Aufsicht würden die Behörden sie schlachten und verbrennen.

Der schnauzbärtige Mann mit dem weißen Haar fühlt sich wohl in seiner Haut, er weiß sich im Recht. Entspannt lümmelt sich Matsumura, die Zigarette im Mundwinkel, im Kreis seiner Tiere vor der Kamera. „Nachts ist es totenstill hier. Am Anfang war es verrückt: die Häuser, die Autos, aber keine Menschen mehr, kein Licht, kein Geräusch.“ Inzwischen ist er daran gewöhnt. Aber die erste Erkenntnis, wirklich der letzte Mensch in Tomioka zu sein – und das vielleicht für immer –, wird er nie vergessen. „Es war unbeschreiblich, Einsamkeit trifft es nicht.“

Er war mit seiner Familie und den Eltern nach Süden geflohen zu einer Verwandten: „Sie ließ uns nicht einmal in ihr Haus: ,Ihr seid alle strahlenverseucht!‘, sagte sie und schlug die Tür zu.“ Die Auffanglager seien damals überfüllt gewesen, die Familie wurde abgewiesen. Naoto Matsumura erklärt nie, wo seine Familie am Ende unterkam und warum er sie verließ, um in der Todeszone seine Tiere wie Menschen zu ehren.

Wohl treten andere Figuren auf. Strahlenexperten, die empfehlen, nicht zu essen und zu trinken in der Zone – ein Witz aus der Sicht Matsumuras und auch des Betrachters, der sich bald auf seine Seite schlägt. Wer sind diese Leute, ihm sein Leben zu verbieten, was haben sie ihm zu bieten? Nur die Schlachtung der Tiere, die ihr Hirte als „gesund und glücklich“ beschreibt.

„So viele ihrer Artgenossen starben hier unter entsetzlichen Qualen“, sagt er. Über 1000 Stück Vieh und Hunderttausende Hühner verhungerten. Matsumura führt uns zu Ställen, in denen Aberdutzende Skelette liegen, angekettete Knochen, Fukushimas „Killing fields“. „Es war die reine Hölle, als sie an Hunger starben, nicht zusammen, sie mussten unter Kadavern vegetieren, bis sie selbst zusammenbrachen.“ Er erzählt entsetzt von einem Kälbchen, dass von seiner abgemagerten, milchlosen Mutter weggetreten wurde. Einmal, dann wieder und wieder. Bis das Jungtier aufgab.

Als ein Team von CNN Matsumura Ende Januar 2012 außerhalb der Sperrzone interviewte, glaubte er noch, dass Tomioka dekontaminiert werden könne. Auch dafür, bis das geschehe, halte er dort Wache. „Ich bin voller Zorn“, gestand er dem Team.

Das Dreiminutenstück erinnerte kaum zufällig an die Handvoll kaisertreuer japanischer Soldaten, die auf irgendwelchen Pazifikinseln noch Jahrzehnte nach Kriegsende auf Befehle warteten. Derselbe stille Fanatismus sprach aus Naoto Matsumura. In „Alone in the Zone“ ist zum Zorn auf die Menschen der Friedensschluss mit den Tieren gekommen. Es ist, als wolle er an den Kreaturen gut machen, was Menschen, selbst nächste Verwandte, an ihm verbrochen haben. Wenn ein Mensch ganz allein ist, wird er sein Gott.