Der 28-Jährige kritisiert: Polizei half Studentin lange nicht, sondern stritt erst über Zuständigkeit und verschwendete wertvolle Zeit.

Neu Delhi. Vor einer Woche starb eine junge Inderin an den Folgen einer bestialischen Vergewaltigung. Begleitet hatte sie in der Tatnacht ein Freund, der die schweren Misshandlungen durch sechs Beschuldigte in einem fahrenden Bus verletzt überlebte. Der 28-Jährige hat nun sein Schweigen gebrochen. Was er dem Hindi-Sender Zee News über das Verbrechen erzählte, war weitgehend bekannt. Was allerdings nach der Tat geschah, sorgte am Sonnabend für Entsetzen - wenn es viele Inder auch nicht wirklich überraschen dürfte.

Nachdem die 23-Jährige und er nackt aus dem Bus geworfen wurden, sei ihnen niemand zur Hilfe gekommen, sagt der Mann. Das lag nicht daran, dass keiner sie bemerkte – im Gegenteil. Hilflos und blutend lagen die beiden an einer der meistbefahrenen Schnellstraßen der Hauptstadt. Tausende müssen an jenem kalten Sonntagabend vor drei Wochen an den Notleidenden vorbeigefahren sein.

„Autos, Autorikschas und Motorräder bremsten, aber rasten dann davon“, erinnert sich der Begleiter der jungen Frau. „Ich winkte um Hilfe. Diejenigen, die anhielten, starrten uns an und diskutierten, was passiert sein könnte. Aber niemand unternahm etwas, wir warteten 20 bis 25 Minuten auf Hilfe.“

Die Nachrichtenagentur IANS schrieb am Sonnabend: „Freund des Opfers der Gruppenvergewaltigung klagt herzlose Bewohner Delhis an“. Der Fall wirft ein Schlaglicht darauf, dass in der indischen Gesellschaft nicht nur Gewalt gegen Frauen ein Problem ist, sondern auch mangelnde Hilfsbereitschaft gegenüber Notleidenden.

Grund sind nicht unbedingt nur fehlendes Mitgefühl, sondern auch purer Eigenschutz: Inder ohne Beziehungen laufen Gefahr, sich selber in Schwierigkeiten zu bringen, wenn sie helfen wollen. Wer bei einem Unfall die Polizei ruft, kann leicht in die Mühlen der Bürokratie geraten, die in Indien so schnell niemanden loslassen. Helfer laufen Gefahr, beschuldigt zu werden, selber an Unfällen beteiligt gewesen zu sein. Und manchmal bedarf es Schmiergeldes, um Anschuldigungen bei der Polizei wieder aus der Welt zu schaffen.

Experten schätzen, dass viele Opfer von Verkehrsunfällen überleben könnten, würde sich jemand ein Herz fassen und rechtzeitig Hilfe rufen. Auf Indiens Straßen sterben jedes Jahr über 125.000 Menschen, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Auch Polizisten sind allerdings nicht unbedingt erpicht darauf, Fälle zu übernehmen. Das gilt besonders dann, wenn die Fälle das Potenzial haben, neben Arbeit auch noch Ärger zu bereiten.

So berichtet auch der Begleiter der Frau, dass die Polizisten - nachdem dann doch mehrere Streifenwagen eintrafen – zunächst wichtige Zeit verschwendet hätten. Sie hätten debattiert, welche Wache sich um die Opfer kümmern müsse, sagt er. „Statt zu helfen, diskutierten sie über Zuständigkeitsbereiche. Wir baten die ganze Zeit um einen Krankenwagen und Kleider.“ Am Schluss habe er selber die Freundin hochheben und in einen der Streifenwagen tragen müssen. Wahrscheinlich, so glaubt der verbitterte Mann, hätten die Polizisten ihre Uniformen nicht mit Blut beschmutzen wollen.

Die Polizei dementiert, dass es bei ihr Versäumnisse gegeben habe. Dennoch: Auch Ausländer, die in Neu Delhi wohnen, erleben, wie Polizisten an Verkehrsunfällen mit Verletzten einfach vorbeifahren. Oder sie berichten von Überfällen, bei denen Polizisten sich zunächst weigern, blutende Verletzte ins Auto zu lassen.

Nicht nur solche ernüchternden Vorkommnisse sind Indizien dafür, dass das Schicksal von Menschen in dem gigantischen Land mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern so viel Aufmerksamkeit bekommt wie im Westen. So verschwanden seit 2009 alleine im Moloch Neu Delhi etwa 19.000 Kinder, von denen mehr als 3300 nie wieder auftauchten, wie indische Medien im August unter Berufung auf Regierungsangaben meldeten. Was in Europa einen gesellschaftlichen Aufschrei – und eine großangelegte Suche in jedem Einzelfall – nach sich ziehen würde, ist in Indien nicht viel mehr als eine Randnotiz.