Die Proteste nach dem Tod der vergewaltigten 23-jährigen Studentin sind auch der Beginn eines gesellschaftlichen Wandels in Indien.

Neu-Delhi. "Indiens Tochter", die "Furchtlose", das "Löwenherz" ist tot. Die von sechs Männern auf bestialische Weise vergewaltigte 23-Jährige hat den Kampf um ihr Leben verloren. Die Studentin erlag nach einem langen Überlebenskampf in einem Krankenhaus in Singapur ihren schweren inneren Verletzungen. Ihre Leiche wurde am Sonntag nach Indien zurückgebracht und sofort eingeäschert. Die sechs mutmaßlichen Täter müssen sich nun wegen Mordes verantworten, ihnen droht die Todesstrafe.

Am Wochenende versammelten sich erneut überall im Land Menschen zu stillen Gebeten und Demonstrationen. In vielen Städten Indiens zündeten sie Kerzen für das Opfer an. "Wir wollen Gerechtigkeit", skandierten die Demonstranten. Vereinzelt kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften.

Das lange Leiden und der Tod der jungen Frau haben aber auch einen Wandel in der Gesellschaft ausgelöst: Viele andere Inderinnen beginnen nun, sich öffentlich gegen Gewalt und Unterdrückung zu wehren. Einige trauen sich, öffentlich über Massenvergewaltigungen durch Soldaten zu sprechen. Sie erzählen, wie sie nach einem sexuellen Übergriff zur Polizeistation gingen und dort noch einmal vergewaltigt wurden. Und von schrecklichen Vereinbarungen: Um die Ehre ihrer Familie wiederherzustellen, mussten sie den Vergewaltiger heiraten.

"Ich bin so traurig, dass ich Teil dieser Gesellschaft und Kultur bin", schrieb Bollywood-Superstar Shah Rukh Khan via Twitter. Er schäme sich, ein Mann zu sein. Das dürfte für die meisten anderen Inder nicht gelten, sie sind das bevorzugte Geschlecht: Mädchen werden häufig abgetrieben, sodass nur 940 Frauen auf 1000 Männer kommen. In der Hauptstadt Delhi sind es laut offiziellen Statistiken nur 866 Frauen auf 1000 Männer.

Es gibt weitere erschreckende Erkenntnisse der Regierung: Indische Mädchen sind häufiger unterernährt als Jungen. Und während drei Viertel der Männer lesen und schreiben können, gilt das nur für etwa die Hälfte der Frauen. Das hängt auch damit zusammen, dass Mädchen oft nicht mehr in die Schule gehen dürfen, sobald sie ihre Regelblutung bekommen. Denn vor allem auf dem Land gibt es trotz anderslautender Gesetze oft keine Schultoiletten - und damit für die Mädchen keine Möglichkeit, ihre Binden zu wechseln.

"Was ist falsch mit uns, mit unserer Gesellschaft?", fragt die Frauenrechtlerin Kavita Krishnan bei den Protesten in Neu-Delhi. Nirgendwo im Land seien Frauen so viel wert wie Männer. Das zeige sich auch bei der Strafverfolgung: Wenn sich eine Frau überwinde, nach einer Vergewaltigung zur Polizei zu gehen, sei diese oft nicht gewillt, ihre Anzeige aufzunehmen. Dann verschleppten die Gerichte die Fälle oft jahrelang, 100.000 Akten sollen verstauben. Und nur in einem Viertel der Prozesse kommt es zu einer Verurteilung.

Indische Männer müssen für Vergehen an Frauen kaum Konsequenzen fürchten. In einer Talkshow fragte die Moderatorin unlängst das Publikum, wer in einem öffentlichen Verkehrsmittel schon begrapscht worden sei. Alle weiblichen Hände gingen nach oben. Wer protestierte? Nur eine. "Was betrachten wir als Gewalt?", fragt Shoma Chaudhury vom indischen Magazin "Tehelka". "Muss erst eine Frau nackt und mit zerfetzten Genitalien auf die Straße geworfen werden, bevor wir Gewalt wahrnehmen?"

Es sei nicht nur die besondere Brutalität des Falls der 23-Jährigen gewesen, die zu den Protesten führte, sagt die Politikanalystin Saba Naqvi. Gruppenvergewaltigungen werden in Indien täglich angezeigt - meistens in ländlichen Gegenden. Oft suchten die Männer Frauen der Urvölker oder Dalit-Mädchen aus, also die sogenannten Unberührbaren am unteren Ende der Gesellschaft. Diesmal aber traf es eine Studentin in der 17-Millionen-Metropole Delhi. "Die Proteste jetzt sind ein Aufstand der wachsenden urbanen Mittelschicht", sagt sie.

Und diese scheint gerade erst zu erwachen. "Es kann ja auch meine Schwester treffen", sagt der 24-jährige Badal Yadav, der mit seinen Kommilitonen zu den Protesten kam. Sie sehen es als ihre Pflicht an, auf die Straße zu gehen - und wollen weiter kämpfen. "Wir müssen doch zeigen, dass es auch Menschlichkeit gibt", sagt Yadav. Neben ihm hält ein junger Mann ein Schild, auf dem er dem Vergewaltigungsopfer alles Gute wünscht. "Mögest Du im Himmel den Frieden finden, den wir Dir nicht geben konnten, als Du hier warst."