Straßburger Richter entscheiden: Eine rückwirkende Sicherungsverwahrung verletzt Menschenrechte. Kommen nun 70 Häftlinge frei?

Straßburg. Reinhard M. ist ein Serientäter. Seit seinem 15. Lebensjahr saß der 52-Jährige immer wieder in Haft, erst wegen Autoaufbrüchen, dann wegen Schlägereien. Eine Reihe von Mordversuchen und bewaffneter Raubüberfälle geht auf sein Konto. Nur wenige Wochen seines Lebens als Erwachsener hat er in Freiheit verbracht. Zum vorläufig letzten Mal wurde er im Juli 1985 straffällig. Er war damals 28 Jahre alt, auf Freigang, und würgte eine Frau so lange, dass sie beinahe starb.

Daraufhin verurteilte ein Gericht in Marburg ihn 1986 wegen versuchten Raubmordes zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verbunden mit anschließender Sicherungsverwahrung.

Nun soll Reinhard M., den seinerzeit mehrere Gutachter für gemeingefährlich befanden, von der Bundesregierung 50 000 Euro Schmerzensgeld erhalten, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gestern in Straßburg.

Reinhard M. wird seit 18 Jahren im hessischen Schwalmstadt in Sicherungsverwahrung gehalten. Das verstößt gegen den Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz", da zum Zeitpunkt der Verurteilung 1986 die Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre begrenzt war.

Reinhard M. hätte demnach am 8. September 2001 auf freien Fuß gesetzt werden müssen. Seine Sicherungsverwahrung wurde aber im Frühjahr 2001 auf unbestimmte Dauer verlängert.

Grundlage dafür war eine Änderung des Strafgesetzbuchs aus dem Jahre 1998, mit der die Höchstdauer der Sicherungsverwahrung aufgehoben wurde. Seither können als besonders gefährlich eingestufte Verbrecher auf unbegrenzte Zeit inhaftiert werden.

Diese Praxis wurde im Februar 2004 vom Bundesverfassungsgericht gebilligt. Die Karlsruher Richter befanden, die Sicherungsverwahrung sei keine Strafe, sondern als Maßnahme "zur Besserung und Sicherung" anwendbar. Daher sei das absolute Rückwirkungsverbot für Strafen hier nicht anwendbar. Sicherungsverwahrung verstoße nicht gegen die Menschenwürde, wenn sie "wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist".

Der Gerichtshof für Menschenrechte sieht das anders. Der Kläger sei in einem gewöhnlichen Gefängnis untergebracht, seine Sicherungsverwahrung wie eine gewöhnliche Haftstrafe ein Freiheitsentzug. Sie sei als Strafe zu werten, damit gelte das Rückwirkungsverbot.

Die von den deutschen Gerichten festgestellte Gefahr, der Mann könnte nach seiner Freilassung neue schwere Straftaten begehen, sei nicht "konkret und spezifisch genug". Seine dauerhafte Sicherungsverwahrung verletze daher auch das Grundrecht auf Freiheit. Die Sicherungsverwahrung könne nur ausgesetzt werden, wenn angenommen werde, dass von einem Täter keine Gefahr mehr ausgeht, heißt es in dem Urteil. Diese Voraussetzung sei aber schwer zu erfüllen. Im Übrigen biete Deutschland für Häftlinge in Sicherungsverwahrung keine ausreichende psychologische Betreuung an, rügten die sieben Richter einer sogenannten Kleinen Kammer des Europäischen Gerichtshofes. Auch die deutsche Richterin Renate Jäger stimmte für das Urteil.

Beide Prozessparteien können nun innerhalb von drei Monaten Rechtsmittel einlegen. Dann kann eine Große Kammer des Straßburger Gerichts die Entscheidung prüfen.

Der Anwalt des Klägers, Bernhard Schroer, begrüßte das Urteil. Der Gerichtshof habe festgestellt, dass sein Mandant seit Jahren rechtswidrig inhaftiert sei. Deutschland müsse diesen "rechtswidrigen Zustand" beenden und Reinhard M. freilassen. Das Gleiche gelte nach Angaben des Gerichtshofes für etwa 70 weitere Häftlinge.

"Mit solchen Aussagen wäre ich vorsichtig", sagt Ulrich Staudigel, Sprecher des Bundesjustizministeriums, dem Abendblatt. "Das Urteil ist zunächst nicht endgültig und daher nicht unmittelbar verbindlich. Die Bundesregierung erwägt, die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer des Gerichts zu beantragen." Tragfähige Schlüsse auf mögliche Konsequenzen für das deutsche System der Sicherungsverwahrung können erst nach Abschluss dieser Prüfung gezogen werden. Eine zentrale Rolle wird auch die Frage spielen, wie auf rechtsstaatlicher Grundlage der notwendige Schutz der Bevölkerung vor notorisch gefährlichen Straftätern gewährleistet werden kann.