Heute vor 490 Jahren hat Martin Luther 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg geschlagen - es war die Geburt des Protestantismus. Was bedeutet der Reformationstag heute? Abendblatt-Autor Holger Dohmen sprach mit Margot Käßmann.

ABENDBLATT: Heute feiern wir Reformationstag, den Geburtstag des deutschen Protestantismus. Was bedeutet Ihnen dieses Datum?

BISCHÖFIN MARGOT KÄSSMANN: Es ist für mich ein besonderer Festtag. Kirchlich, geistlich, theologisch hat er den Prozess in Gang gesetzt, der unsere Kirche bis heute prägt. Aber auch kulturell bedeutet dieser Tag viel, denn er ist verbunden mit einer ungeheuren Bildungsleistung. Luther hat die Bibel ins Deutsche übersetzt und damit eine Volkssprache für alle geschaffen.

ABENDBLATT: Am selben Tag wird auch Halloween gefeiert. Im vergangenen Jahr haben Sie mit Luther-Bonbons dagegengehalten.

KÄSSMANN: Das tun wir auch in diesem Jahr und werben damit für unsere Reformationsgottesdienste. Dagegen ist doch Halloween völlig albern. Halloween ist übrigens auch antireformatorisch, weil Luther ja gerade gegen die Angst vor Geistern und Dämonen angetreten ist.

ABENDBLATT: Dennoch ist das Ganze ein riesiges Geschäft.

KÄSSMANN: Ja, ich kann das nicht verstehen, aber das ist wohl der Tribut an die Spaßgesellschaft.

ABENDBLATT: Spaß und Protestantismus gelten ja immer noch als gegensätzliche Kategorien. Was ist für Sie eigentlich typisch protestantisch?

KÄSSMANN: Für mich ist evangelischer Glaube geradezu die Voraussetzung für Lebensfreude. Typisch protestantisch ist die Bibel im Zentrum - sola scriptura, die Schrift allein. Das bedeutet, der Einzelne bildet sich sein Urteil an der Bibel, es geht also um die Verantwortung des Einzelgewissens. Daraus entsteht eine große Freiheit. Luther wird ja der Satz vor dem Reichstag in Worms zugeschrieben: Ich stehe hier, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, amen. Das ist schon sehr protestantisch. Weder der Papst noch die Tradition können mir vorgeben, was ich zu glauben habe. Freiheit ist der zentrale reformatorische Begriff.

ABENDBLATT: In zehn Jahren feiert die Reformation ihr 500-jähriges Bestehen. Wie sehen Sie die gegenwärtige Befindlichkeit des Protestantismus?

KÄSSMANN: Es gibt mehrere große Herausforderungen. Das eine ist die Säkularisierung. Was bedeutet uns Gottesbeziehung heute, was bedeutet persönlicher Glaube? Dann gilt es, stärker zu vermitteln, dass Christentum eine Gemeinschaftsreligion ist. Wir müssen das Gemeindeleben stärken. Dazu kommt die ökumenische Bewegung, also die Frage: Wie viel Gemeinsames ist möglich, und wie viel eigenes Profil ist nötig? Schließlich gibt es noch die Herausforderung durch die anderen Religionen im Land.

ABENDBLATT: Brauchen wir also eine neue Reformation in Deutschland?

KÄSSMANN: Die Reformatoren haben gesagt: semper reformanda, das heißt, wir müssen immer wieder verändern. Ich bin überzeugt, dass die Kraft des Protestantismus, die er aus seiner Tradition schöpft, ausreicht, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Wir brauchen keine neue Reformation, aber eine Besinnung auf das, was die Reformation geschaffen hat. Das können wir fortentwickeln.

ABENDBLATT: Wie soll denn das Profil, das in der Evangelischen Kirche diskutiert wird, aussehen? Wird es politischer, frommer, konservativer oder linker?

KÄSSMANN: Die Stärke des Protestantismus liegt eher in seiner Vielfalt. Es gibt den politisch engagierten Protestantismus ebenso wie den eher evangelikal geprägten Protestantismus. Für mich ist das keine Schwäche, wie uns manche bescheinigen, die das einheitliche Gesicht haben wollen.

ABENDBLATT: Wo stehen Sie in dieser Vielfalt?

KÄSSMANN: Ich suche nach einer Balance. So ist die eigene Frömmigkeit für mich die Voraussetzung, politisch zu sein. Denn für mich hat Glaube mit Weltverantwortung zu tun, das ist ein Markenzeichen der Evangelischen seit Luther.

ABENDBLATT: Zur Vielfalt des Protestantischen gehört das Intellektuelle. Er sei eine Kopfreligion, beklagen manche und schauen neidvoll auf die Katholiken. Fehlt den Evangelischen das Sinnliche?

KÄSSMANN: Bei mir kommen überhaupt keine Neidgefühle auf. Es gibt eine grundlutherische Abwehr dagegen, sich, wie im Katholizismus gefordert, gehorsam Rom unterzuordnen. Aber die Sehnsucht, Glauben auch sinnlich zu erfahren, ist auch bei uns Protestanten groß. Denken Sie an die Pilgerbewegung, Schweigeseminare, Meditation. Das ist alles möglich. Doch die Grundsäulen unseres Glaubens müssen fest sein, und das sind eben die Bibel, Gesang, Gottesdienst, und die Bindung in der Gemeinschaft.

ABENDBLATT: Sie kommen gerade aus den USA zurück, wo es ja zahlreiche Abzweigungen des Evangelischen gibt, die Evangelikalen, die Pfingstler und viele Kleinkirchen. Ihnen allen eigen ist eine tiefe Glaubensleidenschaft. Warum fehlt die bei uns?

KÄSSMANN: Ich sehe nicht alles positiv, was es in Amerika gibt. Da ist mancher Gottesdienst so locker und flapsig, dass mir die manchmal empfundene Strenge unserer Formen eher zusagt. Aber wir müssen neu lernen, dass Gottesdienst nicht immer mit der Frage verbunden wird: Was bringt er mir? Weg von dem Konsumdenken und hin zu einem neuen Gemeinschaftserlebnis, das ist gerade in einer Welt der Individualisierung wichtig.

ABENDBLATT: Nun sind die Austrittszahlen aus den beiden Volkskirchen gegenwärtig rückläufig. Dennoch gibt es wohl einen Bedeutungsverlust der Kirchen. Kardinal Meisner hat gerade verkündet, er sehe seine katholische Kirche nicht mehr als Volkskirche. Ist der Protestantismus noch eine Volkskirche?

KÄSSMANN: Natürlich, denn Volkskirche heißt ja nicht, das ganze Land ist in der Kirche, sondern, Kirche ist für das Volk da. Gerade wir Protestanten haben uns da klarer aufgestellt, wie auch die eben erschienene Friedensdenkschrift zeigt.

ABENDBLATT: Aber wird die überhaupt zur Kenntnis genommen?

KÄSSMANN: Das ist in der Tat ein schlimmes Gesellschaftsphänomen. Wir haben deutsche Soldaten im Ausland, die sterben dort, und für uns ist die Friedensfrage offenbar kein Thema. Ich kann gar nicht begreifen, dass die Kriegsgefahr im Nahen Osten oder im Iran so verharmlost wird.

ABENDBLATT: Ihre Empörung in Ehren. Aber reicht da eine Denkschrift, in der vom gerechten Frieden gesprochen, der islamistische Terror aber verharmlost wird? Ist das nicht ein bisschen blauäugig?

KÄSSMANN: Das finde ich überhaupt nicht blauäugig. Ich halte es aber für einen Skandal, dass im Irak jeden Monat acht Milliarden Dollar für den Krieg ausgegeben werden, aber keine Friedensinitiativen zu erkennen sind. Außerdem erhöhen wir noch unsere Waffenexporte und verdienen am Krieg. Wir sagen dagegen: Investiert in den Frieden.

ABENDBLATT: Die evangelische Kirche soll keine Bundesagentur für Werte sein, sagt EKD-Ratsvorsitzender Bischof Huber. Was wäre daran eigentlich so falsch angesichts eines Werteverlustes, den wir doch haben?

KÄSSMANN: Bischof Huber hat recht, wenn Kirche darauf reduziert werden soll, also funktionalisiert wird. Aber ich bin schon überzeugt, dass unsere Kirche für Werte einzustehen hat. Ich sehe zum Beispiel das Thema Menschenwürde zurzeit als ungeheuer gefährdet. Wenn ein Kind, bei dem im Mutterleib eine Hasenscharte festgestellt wird, abgetrieben wird, dann stimmt etwas nicht in unserer Gesellschaft. Wollen wir denn den perfekten Menschen schaffen? Da muss unsere Kirche laut werden und sagen, dass Menschen nicht nur noch unter dem Aspekt von Leistung oder Vollkommenheit betrachtet werden dürfen. Das christliche Menschenbild sieht Würde in jedem Menschen, auch wenn er in seinen Fähigkeiten eingeschränkt ist.

ABENDBLATT: Beschreiben Sie sich eigentlich als konservativ?

KÄSSMANN: Ja. Weil ich überzeugt bin, dass wir unsere Kultur, unsere Tradition und unseren Glauben bewahren sollten. Freiheit, wie wir sie als Protestanten verstehen, bedeutet ja nicht Libertinismus, dass es mir gut geht und ich eine gut gedeckte Kreditkarte habe. Freiheit nach Luther heißt eben Freiheit von allem, aber auch Freiheit zu allem.

ABENDBLATT: Was gelten diese Werte denn in diesem Land?

KÄSSMANN: Es gibt leider erhebliche Defizite in unserer Gesellschaft. Wenn einer merkt, da nebenan schreit ein Kind, hungert und wird geschlagen, und sich sagt, was geht mich das an, dann läuft etwas falsch. Das ist für mich ein dramatischer Verlust gesellschaftlicher Substanz, da fehlt eine Kultur der Achtsamkeit und der Verantwortung füreinander.

ABENDBLATT: Zur Befindlichkeit des Protestantismus gehört auch sein Eingeklemmtsein zwischen Papsttum und Säkularisierung. Was ist denn die größere Herausforderung? Oder ist es etwa sogar der neue Atheismus, der sich überall zeigt?

KÄSSMANN: Als das größere Problem sehe ich eher die Trivialisierung oder Karnevalisierung unserer Gesellschaft. Gegen das Papsttum würde Luther heute wohl gar nicht mehr so wettern.

ABENDBLATT: Was würde er denn zum Islam und seiner Ausbreitung in Deutschland sagen?

KÄSSMANN: Er würde sich mächtig aufregen. Denn bei aller Notwendigkeit eines friedlichen Dialogs bleiben gravierende Unterschiede bestehen. Das ist zu merken, wenn versucht wird, gemeinsame Gebete zu veranstalten. Die gehen in der Regel auf Kosten von Christus, der aus dem Gebet herausgehalten wird. Und das ist unredlich im Dialog.

ABENDBLATT: Also kein Kuschelkurs mit dem Islam?

KÄSSMANN: Wir dürfen keine anti-islamische Stimmung in unserem Land befördern. Religion darf kein Öl in das Feuer politischer Konflikte gießen. Und wir sollten die Muslime stützen, die zu den Werten unseres Landes stehen. Aber eine evangelische Haltung brauchen wir schon. Das sind wir Luther schuldig.