Am Wochenende feiert Hamburg seinen Hafen und seine Schiffe - doch wie sieht der Alltag an Bord heute aus? Das Abendblatt reiste ein Stück mit.

Sechs Uhr früh im Hafen von Tilbury vor den Toren Londons. Grauer Himmel hängt über der Themse. Die Containerbrücken haben ihre Arbeit getan, die Kräne sind hochgeklappt. Die "Cap Blanche", ein mittelgroßes Schiff, das 2740 Zwanzig-Fuß-Container (TEU) an Bord nehmen kann, wartet auf die Abfahrt nach Hamburg. Bis drei Uhr noch hatte an Deck reger Betrieb geherrscht: 271 Vierzig-Fuß-Container und 80 Zwanzig-Fuß-Container wurden entladen, 221 kamen neu an Bord. "In einer Stunde lassen sich je Kran 20 bis 25 Container be- oder entladen", sagt Kapitän Alexander Malyshew.

Jeder Container hat eine eigene Nummer und ist im Ladeplan gespeichert, der die genaue Position der einzelnen Behälter im Schiff zeigt. Unterschiedliche Farben markieren die Ladehäfen, ein Buchstabe im jeweiligen Kästchen gibt Auskunft über den Zielort des Containers. All diese Informationen sowie die Be- und Entladedaten sind als Computerdateien gespeichert, mit denen neben den Disponenten an Land auch die Crew, der Kranführer und Hafenlogistiker arbeiten.

Die "Cap Blanche" verbindet im Auftrag der Reederei Hamburg Süd sechs südamerikanische Häfen mit Rotterdam, Tilbury, Hamburg und Antwerpen. Für eine Runde bis nach Valparaiso (Chile) und zurück braucht sie 58 Tage, erste Station in Europa ist Rotterdam. Von dort kam das Schiff am Vortag um 13 Uhr mit zwei Stunden Verspätung in Tilbury an. Dadurch verpasste es die für Mitternacht vorgesehene Abfahrtszeit mit günstigen Wasserständen. Nun soll es um acht Uhr endlich losgehen.

Um 7.45 Uhr kommt der Lotse an Bord, fünf Minuten später sind zwei Schlepper in Stellung - das 222 Meter lange Schiff muss gedreht werden. Aber noch immer fehlt Wasser unterm Kiel. Um 8.30 Uhr wird dann die Schiffsmaschine gestartet. Malyshew gibt die Order "Leinen los". Langsam schiebt sich der Frachter bei Nieselregen die Themse hinunter. Er ist nicht ganz voll beladen, hat einen Tiefgang von knapp elf Metern und in den flachsten Passagen keine zwei Meter Wasser unter dem Kiel. Knapp viereinhalb Stunden später ist die 115 Kilometer lange Passage geschafft, Lotse Chris Spurling verlässt das Schiff. Nun heißt es "full speed" nach Hamburg.

Kapitän Malyshew fährt für vier Monate auf dem Schiff und kehrt dann in seine Heimatstadt St. Petersburg zurück. Dort wird der 38-jährige Russe ein paar Wochen mit Frau und Tochter (15) verbringen und später seinen nächsten Einsatz erhalten. Jetzt freut er sich über "sein" neues Schiff, das erst ein paar Monate lang auf den Weltmeeren unterwegs war: "Es ist, als würde man ein neues Auto einfahren."

Bei einer Geschwindigkeit von 18 Knoten drosselt Malyshew die knapp 30 000 PS starke Maschine: "Unser Hamburger Hafenagent hat mich informiert, dass wir um sechs Uhr morgens bei Elbe 1 den Lotsen übernehmen. Um diese Zeit einzuhalten, reicht diese etwas niedrigere Geschwindigkeit, die Brennstoff spart."

Was die Sprit sparende Fahrweise ausmacht, erklärt der russische Chefingenieur Andrej Mezencew (53): "Bei Höchstgeschwindigkeit brauchen wir 95 Tonnen Schweröl pro Tag, bei sparsamster Fahrweise sind es 58 Tonnen. Wenn wir nach Südamerika fahren und unsere Kühlcontainer leer sind, können wir manchmal entsprechend langsam fahren. Aber im Schnitt verbrauchen wir um die 80 Tonnen Schweröl pro Tag." Natürlich ist der Spritsparkurs ökologisch und wirtschaftlich vorbildlich, doch widerspricht er oft dem engen Zeitplan der Schiffe. Dieser ist streng einzuhalten: Kommt ein Container verspätet am Zielort an, wählt der Kunde womöglich beim nächsten Auftrag eine andere Reederei - die Konkurrenz ist groß. Für die "Cap Blanche" macht es trotz der Verspätung in London jetzt keinen Sinn, die Maschine auf Hochtouren laufen zu lassen, um auf 22 Knoten (gut 40 Kilometer pro Stunde) zu kommen - der Kai in Hamburg wird morgen erst gegen 11 Uhr frei.

Die "Cap Blanche" biegt in die "Autobahn" ein, die vom Ärmelkanal entlang der niederländischen und deutschen Küste nordwärts führt. Hier herrscht so viel Verkehr, dass die Fahrtrichtungen streng getrennt sind und die Schiffe sich an vorgeschriebene Sektoren halten müssen. Auf dem Radar und der elektronischen Seekarte sind immer mindestens ein halbes Dutzend Fahrzeuge zu sehen. Mit einem Klick auf das jeweilige Symbol auf dem Computerbildschirm verlieren die Punkte auch während der Nachtfahrt ihre Anonymität: Der Schiffsname ist zu lesen, oft auch die Länge und der nächste angesteuerte Hafen, immer die Fahrtrichtung und -geschwindigkeit.

Als am nächsten Morgen gegen 5.30 Uhr vor Cuxhaven die Sonne aufgeht, hat Alexander Sergey (39) Dienst. Der erste Offizier ist auch für die Ladung zuständig, errechnet zum Beispiel in den Häfen, welche Ballasttanks geflutet werden müssen, wenn das Schiff nicht voll beladen ist. Jetzt nimmt er Kontakt mit der Lotsenstation an der Tonne "Elbe" auf. Vom dort liegenden Mutterschiff startet ein Lotsenboot und bringt Wolfgang Schmidt an Bord. Er ist der erste von drei Lotsen, die das Schiff bis an den Burchardkai geleiten werden. Kurz nach sechs Uhr betritt Schmidt die Brücke. Die Morgensonne taucht die Nordsee in ein mildes Licht, an Backbord ist noch Helgoland zu sehen, steuerbords erstreckt sich das Hamburgische Wattenmeer mit den Inseln Neuwerk, Scharhörn und Nigehörn. Doch der Lotse hat dafür zunächst keinen Blick. Er meldet sich per Funktelefon bei der Verkehrsüberwachung "Elbe traffic" in Cuxhaven. Die hat die "Cap Blanche" längst registriert, deshalb reicht der kurze Spruch: "Hier ist Schmidt, bin gerade eingestiegen auf Reede Elbe."

Drei Stunden, bis Brunsbüttel, wird der passionierte Langstreckenschwimmer dem Schiff nun seinen Weg weisen. Wattflächen und Wasseradern glitzern in der Morgensonne. "Das hier ist ein Traumjob", sagt Schmidt, "Schifffahren ist mein Hobby, das ich zum Beruf gemacht habe."

Um neun Uhr ist Brunsbüttel erreicht - Lotsenwechsel. Ray Hensel übernimmt den Dienst, der offiziell an der Landesgrenze bei Wedel endet. Tatsächlich geht's bis hinter Blankenese. "Wir haben mit den Hafenlotsen vereinbart, dass wir ein bisschen mehr Strecke übernehmen", sagt Hensel. "Dafür können wir die Versetzerschiffe der Hafenlotsen nutzen." Kurz hinter Stade taucht der erste Segler auf. Unter den Lotsen würden die Freizeitkapitäne oft "weiße Pest" genannt, schmunzelt Hensel, schränkt aber sofort ein: "90 Prozent der Segler kennen die Verkehrsregeln. Nur die restlichen zehn Prozent machen uns manchmal Sorgen."

Um 11.50 Uhr löst der Hafenlotse Hensel ab, nun geht alles sehr schnell: Keine fünf Minuten später ist der erste Schlepper am Heck in Position, zehn Minuten später erhält er auf Anforderung des Lotsen Verstärkung von einem zweiten Schlepper. Das Trio fährt in das Waltershofer Hafenbecken ein. Mit vereinten Kräften drehen die Schlepper den Stahlkoloss im Parkhafen um dessen eigene Achse. Um 12.15 Uhr geht das erste Tau an Land, um 12.30 Uhr hat das Schiff festgemacht.

Keine halbe Stunde später senkt sich die erste Containerbrücke über das Deck. Nun kommen die Lascher an Bord, ein gutes halbes Dutzend Arbeiter des Terminals, die die Spannschrauben lösen, die Container miteinander verbinden. Jetzt kann das Ent- und Beladen beginnen.

Alexander Sergey hat den Ladeplan für Hamburg auf dem Bildschirm vor Augen. 331 Zwanzig-Fuß-Container werden hier entladen, dazu 220 Vierzig-Fuß-Behälter. Insgesamt werden gut 11 000 Tonnen gelöscht, mehr als die Hälfte der Ladung. Im Gegenzug sollen 550 Container an Bord kommen - und 46 weitere Kühlcontainer als Leergut. Rund 24 Stunden werden die Kräne nun in Betrieb sein, schätzt Sergey. Er wird bei der Abfahrt nicht mehr dabei sein. Von Hamburg aus tritt er die Rückfahrt in die Heimat St. Petersburg an. Den nächsten Einsatz kennt er noch nicht. Einen Wunsch aber hat er: "Ich habe beantragt, nach knapp vier Monaten wieder auf der ,Cap Blanche' zu fahren."