Trauer: Der große Entertainer erlag 71jährig seinem Krebsleiden. Ein persönlicher Nachruf auf den “holländischsten Deutschen“.

Hamburg. Er stand am laufenden Band und sprach die Tagesshow. Er spielte das Herzblatt und die verflixte 7. Er fragte "Wann wird's mal wieder richtig Sommer?" und sammelte 7 Tage, 7 Köpfe. Er zielte aufs Zwerchfell so gut, wie er die Tränendrüse traf. Er war der ungeduldigste Produzent brillanter Sketche über die kleinen Katastrophen unseres Alltags und der geduldigste Zuhörer schlechter Witze über holländische Campinganhänger und Wassertomaten. Er war furchtloser Kettenraucher und tapferer Krebspatient. Er widmete sein Leben dem Lachen und starb ohne Weinerlichkeit: Rudolf Wijbrand Kesselaar, für die Millionen am Bildschirm Rudi Carrell, ist tot, und die deutsche Unterhaltungskunst um einen ihrer Großen ärmer.

Das erste Mal interviewte ich ihn Anfang der siebziger Jahre als noch ganz junger Fernsehkritiker in seinem Haus in den Hügeln hinter Marbella: ein Schlaks wie James Stewart, locker wie Dean Martin und hintersinnig wie Danny Kaye. Er machte sich weder klüger noch dümmer, um seinem Publikum zu dienen.

Sein wichtigster, von Rivalen und Epigonen leider oft mißachteter Lehrsatz stammt schon aus dieser Zeit: "Witze kann man nur dann aus dem Ärmel schütteln, wenn man sie vorher hineingesteckt hat." Rudi Carrell, geboren sechs Tage vor Weihnachten 1934 in Alkmaar, war ein Profi vom Silberscheitel bis zur Slippersohle. Er schenkte uns die schönsten Shows, aber auch die präzisesten Produktionen. Vor allem aber schenkte er uns einen Blick auf uns selbst.

Sein Witz öffnete uns die Augen, ohne daß wir sie beschämt hätten abwenden müssen. Sein Humor stimmte heiter, und seine Kritik tat höchstens der Eitelkeit weh. Er sprach das deutscheste Holländisch und war der holländischste Deutsche. Er war unser "Ruuuudi", als Völler noch "Ente" genannt wurde. Er war der Gott der deutschen Fernsehshow, und Alfred Biolek war sein Redakteur, von 1974 bis 1979 am "laufenden Band", der Sendung, die so eindrucksvoll wie keine andere mit dem Kurzzeitgedächtnis kokettierte: In 20 Sekunden merkt sich der Mensch sieben bis neun Gegenstände, aber 40 rollen vorüber - welchen wählen, welchen vergessen?

In die Karriere trieben ihn die Gene: Mit 17 sprang er für den Vater ein, machte mal den Zauberkünstler und mal den Bauchredner. 1959 die erste TV-Show in Holland, 1965 in Deutschland. Bremen wird sein Revier, einschließlich Ehrentribüne des SV Werder. 1987 wird's brenzlig, in "Rudis Tagesshow" regnen Dessous auf ein Foto Khomeinis, der Iran fordert von Bonn eine Entschuldigung für den "lügenden Holländer", schließt das Goethe-Institut und weist zwei deutsche Diplomaten aus.

Fast ein halbes Jahrhundert Showbiz bedeuten auch Teilhabe am erstaunlichsten Techniksprung der Geschichte. Carrells Zeit erfindet Computer und Anti-Baby-Pille, baut und schließt Atomkraftwerke, verpflanzt Herzen und fliegt zum Mond. Der Entertainer startet mono auf den schwarzweißen "Kinowürfeln" der Wirtschaftswunderjahre und krönt die Karriere auf den Plasmabildschirmen in HDTV. Er nutzt die Novität und schützt die Qualität. "Alle reden von neuen Medien", knurrt er bei Einführung des Privatfernsehens 1985, "wer aber redet von neuen Programmen?"

Je reifer die Shows, desto reicher die Emotionen. Carrell läßt es menscheln, das Publikum bekommt nasse Augen, und nicht etwa nur, wenn es nach einer verpatzten Chance heißt: "Das wäre Ihr Preis gewesen!" In den späten Jahren ist er der Elder Statesman im deutschen TV-Entertainment, sein Rat wird überall geschätzt, sein Ansehen steht längst über der Einschaltquote.

Sein Leben außerhalb der Studios kennt auch Schattenseiten: Ehefrau Anke stirbt im Jahr 2000 nach langer schwerer Krankheit. Die eigene Diagnose quittiert der große alte Fernsehmann im Frühjahr 2005 mit stoischer Gelassenheit: "Dann ist es eben aus." Am Freitag erfährt nur die Familie von Carrells leisem Abschied: Ehefrau Simone (35), drei erwachsene Kinder, vier Enkel. Die Trauerfeier folgt ohne Öffentlichkeit, erst dann geht die Nachricht an die Agenturen. "Er wollte es so unauffällig wie möglich", sagt Schwiegersohn Dieter Klar.

Wo der große Unruhige einmal ruhen wird, steht noch nicht fest, wohl aber, daß er zu den ewig Unvergessenen zählen wird. Auch dafür hat er selbst gesorgt: "Ich bleibe Profi bis zum Schluß", sagte er bei einem bewegenden letzten Auftritt zur Goldenen Kamera der "Hörzu" Anfang 2006, "und ich werde noch lange als Wiederholung weiterleben."