Rätselhaft: Erschossen zwei römische Jura-Dozenten eine Studentin, um ihre These zu beweisen, dass man ein unaufklärbares Verbrechen begehen kann?

Rom. Am 9. Mai des Jahres 1997, einem Freitag, wärmte eine bereits sommerliche Sonne den Campus der römischen Universität La Sapienza. Mehrere Tausend Studenten spazierten an diesem Vormittag zu ihren Fakultäten. Auch die blonde Römerin Marta Russo (22). Sie ging an der Seite ihrer Freundin Iolanda Ricci über den Hauptverbindungsweg der Universitätsstadt und besprach die Pläne fürs Wochenende. Die beiden Mädchen wollten zum Strand ins nahe gelegene Ostia fahren.

Später stellte die Polizei fest, dass Marta Russo um genau 11.34 Uhr an den Fenstern der juristischen Fakultät vorbeiging, hinter denen auf drei Stockwerken die Hörsäle vier, sechs und acht untergebracht sind.

In diesem Augenblick herrschte auf dem Campus ein ziemlicher Lärm. Zwei Linienbusse, die die Hochschule mit der Universitätsklinik verbinden, fuhren genau um 11.34 Uhr von der Haltestelle an der juristischen Fakultät ab. Ihre Dieselmotoren brüllten auf. Gleichzeitig rollte der Intercity aus Neapel in den nahe gelegenen Bahnhof Termini ein. Mehrere Studenten sagten später aus, dass sie sich an den gellenden Piff der Lokomotive erinnerten.

Es war also so laut, dass Iolanda Ricci später glaubwürdig aussagte, nichts Außergewöhnliches gehört zu haben, als Marta Russo neben ihr zu Boden fiel. Iolanda dachte zunächst, Marta sei gestolpert. Sie beugte sich über sie und versuchte, sie wach zu rütteln. Sie sah nicht das kleine, kaum blutende Loch an der Schläfe des Mädchens. Erst zwei Medizinstudenten, die zu Hilfe eilten, bemerkten, dass Marta Russo angeschossen worden war. Sie starb vier Tage später an ihren Gehirnverletzungen.

Alle Vernehmungen Iolanda Riccis ergaben nichts. Sie hatte keinen Schuss gehört. Und sie weiß deshalb auch nicht, woher der Schuss kam.

Italien war geschockt: Am helllichten Tage vor Tausenden von Zeugen konnte eine Studentin einfach so erschossen werden. Die Polizei glaubte, den Fall rasch lösen zu können. Die Sachverständigen kamen zu dem Schluss, dass der Mörder nur von den Hörsälen vier, sechs oder acht aus geschossen haben konnte. Ob sich zur Tatzeit in den Hörsälen vier oder acht jemand aufgehalten hatte, konnte die Polizei nicht klären. Nur im Hörsaal sechs befanden sich nachweislich vier Hochschulangestellte. Ihre Vernehmungen brachten nichts. Keiner von ihnen hatte Marta gekannt oder auch nur gesehen. Keiner hatte ein Tatmotiv. Und bei keinem fand man eine Waffe.

Aus Sicht der Experten war es auch möglich, dass der Täter sich im Freien verborgen hatte, wenige Meter von Marta entfernt, so dass Iolanda ihn nicht bemerkte. Die Polizei glaubte zunächst an einen Mord aus Eifersucht, aber auch diese Ermittlungen liefen ins Leere. Marta hatte keine Feinde gehabt, ihr Leben war ausgesprochen unspektakulär verlaufen.

Auf Anweisung des damaligen Ministerpräsidenten Romano Prodi bildete die Polizei eine Sonderkommission mit 80 Beamten: Der Mord sollte um jeden Preis rasch aufgeklärt werden. Martas Begräbnis am 16. Mai geriet zum Staatsakt. Neben Prodi betrauerte der Minister für Bildung, Luigi Berlinguer, das Mädchen. Doch die Ermittler kamen nicht weiter.

Erst nach Monaten kam etwas Licht ins Dunkel. Zwei Studenten gaben der Polizei einen überaus interessanten Hinweis: Er betraf zwei jener vier Hochschulangestellten, die sich zur Tatzeit im Hörsaal sechs aufgehalten hatten - die Dozenten Giovanni Scattone und Salvatore Ferraro. Beide waren außergewöhnlich begabte junge Wissenschaftler. Sie arbeiteten in einem Seminar der Rechtsphilosophie an einer sehr interessanten Theorie. Und die lautete: Ein perfekter Mord ist möglich.

Giovanni Scattone pflegte seine Seminare mit dem Satz zu beginnen: "Es ist unmöglich, einen Mord aufzuklären, wenn der Täter kein Motiv hat und wenn die Tatwaffe nie gefunden wird."

Konnte es sein, dass zwei unbescholtene, überdurchschnittlich begabte Jura-Dozenten eine Studentin erschossen hatten, um eine Theorie zu beweisen?

Tagelange Verhöre der beiden ergaben nichts. Scattone hatte seinen Dienst bei den Carabinieri als Militärersatzdienst in vorbildlicher Weise absolviert. Er kann zwar mit einer Waffe umgehen, aber besessen hat er nie eine. Ferraro galt als ausnehmend höflicher, sehr ehrgeiziger Dozent. Nachweisen konnte die Polizei auch ihm nichts.

Jedoch: Ferraro beging einen folgenschweren Fehler. Er stritt ab, zur Tatzeit im Hörsaal sechs gewesen zu sein. Sein Alibi erwies sich als falsch. Warum log Ferraro? Wollte er wirklich nur den lästigen weiteren Verhören entgehen, oder hatte er doch Marta Russo erschossen?

Die beiden weiteren Zeugen, die im Hörsaal sechs gewesen waren, widersprachen sich fortwährend. Mal wollten sie niemanden bemerkt haben, dann wollten sie gesehen haben, wie Ferraro schoss, dann soll es wieder Scattone gewesen sein.

Schließlich wurde Scattone und Ferraro der Prozess gemacht. Vor allem Scattone wusste seine Verteidigung gut zu inszenieren. "Ich soll also nach Meinung der Anklage so unendlich dumm sein, dass ich nicht in einen Nebenraum ging, wo ich - ohne von Zeugen gesehen zu werden - hätte schießen können? Nein. Ich soll aus dem Nichts eine Pistole gezogen haben, obwohl drei Zeugen das hätten sehen müssen, um dann zum Fenster zu gehen und wahllos einen Menschen zu töten? Ich, ein bisher völlig normaler Mensch, soll mich in jener Minute in ein vollkommen irrational handelndes Monster verwandelt haben? Glauben Sie das wirklich?"

Drei Instanzen beschäftigten sich sechs Jahre lang mit dem Fall. Die Justiz bot alles auf, um den Fall zu lösen. Doch obwohl im Laufe der Jahre Scattone und Ferraro der Falschaussagen und Meineide überführt werden konnten, obwohl sie immer und immer wieder verhört wurden: Den Mord an Marta Russo konnte man ihnen nicht nachweisen. Aus zwei Gründen: Sie hatten kein Motiv, und die Tatwaffe wurde nie gefunden.

In letzter Instanz fällte jetzt ein Gericht ein Urteil, das in die italienische Rechtsgeschichte eingehen wird: Salvatore Ferraro wurde wegen Beihilfe zum Mord zu vier Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt, bleibt aber in Freiheit. Giovanni Scattone wurde wegen Mordes an Marta Russo zu fünf Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Er muss auch nur für wenige Monate ins Gefängnis.

Das Bemerkenswerte an den Urteilen: Sie lassen die Frage offen, ob einer der beiden tatsächlich der Mörder war. Hätte man dies zweifelsfrei nachweisen können, wäre eine Haftstrafe nicht unter 15 Jahren zwingend gewesen. Nun beschäftigt sich eine Kommission mit dem Fall, die vom italienischen Parlament eingesetzt wurde. Abgeordnete forderten bereits, Scattone und Ferraro umgehend freizulassen. Womöglich muss sich demnächst sogar Staatspräsident Carlo Ciampi damit befassen - als allerletzte Instanz.

In Italien glauben inzwischen viele nicht mehr daran, jemals zu erfahren, was am 9. Mai des Jahres 1997 wirklich geschah - in jenem Augenblick um 11.34 Uhr, als die hübsche Studentin Marta Russo vor dem Hörsaal sechs der juristischen Fakultät zusammensackte.