Immer wieder kommt es in der brasilianischen Hooligan-Szene zu Schwerverletzten und Todesfällen. Warum die “Brüder aus Stahl“ ein Spiel des HSV störten und weshalb sie sich auf die WM freuen.

São Paulo/Hamburg. Der Kampf im nördlichen São Paulo ist der schönste, den Arthur Oliveira* je erlebt hat. Für den 32-Jährigen hören sich die Schläge auf die Körper der Gegner an wie ein Orchester. 60 Hooligans der "Gaviões da Fiel" stehen 100 Mitgliedern von "Mancha Verde" gegenüber. Dieses Mal hatte keine der Gruppen Waffen mitgebracht. Ein reiner Faustkampf. Mann gegen Mann. Arthur schlägt einen Gegner zu Boden. Sofort nähren sich ihm zwei weitere. Die Schlägerei dauert ganze zehn Minuten. Zwischendurch gönnen sich die Kontrahenten sogar eine Pause. Sein dritter Gegner versetzt Oliveira einen Hieb, er taumelt und hat ein helles Leuchten vor den Augen. Für Männer, die sich in einen Zweikampf einmischen, von der Seite zuschlagen, aber nichts einstecken wollen, hat er nur Verachtung über. Er tritt einen Schritt zurück, atmet kurz durch. Und stürmt auf seinen härtesten Gegner des Tages zu.

„Adrenalin, das Gefühl, sein Leben zu riskieren und nicht zu wissen, ob man wieder nach Hause kommt oder nicht", nennt der 32 Jahre alte Oliveira als Gründe ein Hooligan zu sein. Der Bauingenieur ist bereits seit 16 Jahren in erster Reihe mit dabei: "Man hat ein enormes Kribbeln im Bauch, die Hände fangen an zu schwitzen und man vereint sich mit seinen 'irmãos de punho" (Brüder der Faust), um in den Krieg zu ziehen. Das Adrenalin bis zum Anschlag vereint uns, macht uns zu Brüdern. Einer ist abhängig vom anderen, um lebendig zu bleiben." Anders als in Europa kämpfen die brasilianischen Hooligans aber nicht nur mit den Fäusten. Manchen von ihnen genügt keine Schlägerei, sie wollen töten. Das Leben zu riskieren, ist zu etwas Normalem geworden, sagt Oliveira. Und das an fast jedem Wochenende.

Schon in den 80er Jahren starben die ersten Menschen bei solchen Kämpfen. In den 90er Jahren begann die brutalste Epoche im brasilianischen Fußball. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Schlachten auf der Straße, auch Eisenstangen, Steine oder Revolver werden benutzt. Die Behörden gingen mit Kampagnen und Verboten dagegen vor, verbessert hat sich jedoch kaum etwas. Zuletzt gingen im Dezember 2013 erschreckende Bilder aus Brasilien um die Welt. Hunderte Fans prügelten während einer Begegnung der Vereine Atlético Paranense und Vasco da Gama im Stadion aufeinander ein, selbst am Boden liegenden Männern wurde gegen den Kopf getreten. Einen gültigen Ehrenkodex scheint es unter den fanatischen Fans kaum zu geben. Gott ist Brasilianer, heißt es. Anders ist auch kaum zu erklären, warum es bei dem Spiel keine Toten gab.

„Am meisten Gewalt gibt es in Goiânia im Bundesstaat Goiás, es gibt dort weniger Kämpfe, aber dafür mit mehr Schusswaffen", sagt Oliveira. "Das hat nichts mit Hooliganismus zu tun, es ist nur Gewalt." Die meisten Hooligans fänden sich aber in São Paulo und Rio de Janeiro. "Es gibt viele Schlägereien und Tote. Manchmal wird auch geschossen, aber im Grunde geht es darum, mit den Fäusten zu kämpfen."

„In Brasilien kämpft man, weil man es mag“

Dass die Hooligans auch vor internationalen Spielen kaum Respekt haben, mussten die Spieler des HSV bei einem Freundschaftsspiel gegen Grêmio Porto Alegre erleben. Im Dezember 2012 kam es dort zu wilden Prügeleien auf den Rängen. Die Polizei marschierte in den Zuschauerblock ein und nahm mehrere Fans fest. Der Konflikt brach dabei jedoch nicht zwischen verfeindeten Anhängern, sondern innerhalb einer der "torcida organizada" genannten Fangruppen aus, sagt Gabriel Uchida. Der Fotograf begleitet die Szene seit Jahren und hat sich auf Bilder von Ultras und anderen Supportern spezialisiert: "Zuletzt gab es sehr viele interne Machtkämpfe bei den torcidas". Oft streiten sich einzelne Gruppen um die Präsidentschaft, dabei geht es auch um viel Geld, das etwa mit dem Verkauf von Fan-Artikeln verdient wird.

Vor der WM bereitet sich die Polizei nicht nur auf Proteste gegen die Fifa vor. Das Zentralgefängnis von Porto Alegre hat einen gesonderten Trakt für randalierende ausländische Fans eingerichtet. Für 64 Männer soll hier Platz sein. Alle brasilianischen Hooligans werden kaum in die ohnehin schon überfüllten Gefängnisse passen. Der Erstligist SC Corinthians Paulista soll bis zu 35 Millionen Anhänger haben, davon sind 94.000 in der torcida "Gaviões da Fiel". Die torcidas sind zunächst Vereinigungen von Fußballfans - teils sind sie aber auch zugleich eine Sambaschule. "Es ist eine Mischung aus Ultras und Hooligans", sagt Uchida. Fans, die ins Stadion gehen, um ihren Verein zu unterstützen, zu singen, Choreografien zu machen. Darunter sind auch Kinder oder ältere Menschen. Aber auch Fans, die vor Auseinandersetzungen nicht zurückschrecken. "Die Gewalt ist Teil der Kultur der torcidas", sagt Uchida. Wieviele gewaltsuchende Hooligans bei den Gaviões sind, lässt sich daher kaum beziffern. Mehrere Hundert zählen auf jeden Fall dazu, das zeigen die zahlreichen Straßenkämpfe der letzten Jahre. "Es gibt viele Hooligans in Brasilien, auch wenn dieser Begriff hier kaum benutzt wird", sagt Uchida. Die Medien verwenden ihn in dramatischeren Fällen, wenn es Tote gibt.

Brasilianische Hooligans, die in der ersten Reihe kämpfen wollen, müssen einen Kampfsport wie Muay Thai oder Jiu Jitsu trainieren, das verlangt die Gruppe. Manche der torcidas bieten ihren Mitgliedern gar eigene Sportstätten, in denen sie sich auf Auseinandersetzungen vorbereiten können. Der europäische Körperkult ist den brasilianischen Schlägern jedoch fremd, ob Bierbauch oder Stiernacken spielt keine Rolle. Grundsätzlich kann jeder dazugehören, unter den brasilianischen Hooligans sind arme Favela-Bewohner, aber auch Manager, Lehrer, Anwälte, Polizisten, Ärzte und Ingenieure. "Alle verstehen sich sehr gut, das ist fast eine Regel bei uns", sagt Oliveira. Was diese Männer vereint, ist keine politische Einstellung, sondern die reine Lust am Kampf. "Hier gibt es keine politischen oder religiösen Kämpfe, in Brasilien kämpft man, weil man es mag." Bewusst politisch tritt nur eine kleine Gruppe im Nordosten Brasiliens auf. Die Ultras von "Inferno Coral" feuern den Zweitligisten Santa Cruz FC aus Recife an. "Man könnte sie den FC St. Pauli Brasiliens nennen", sagt Uchida. Auch die Gaviões als klassischer Arbeiterverein seien eher links eingestellt, aber tatsächlich unpolitisch.

„Die Kämpfe sind heute 'professionalisiert'“

Die meisten Hooligans der Gaviões sind zwischen 18 und 29 Jahren alt, nur wenige Ausnahmen bleiben länger dabei. Die Rivalitäten entstanden aber schon seit den 80er Jahren und heute weiß kaum jemand genau, warum er kämpft. "Es entstand ein Schneeballeffekt, aber tatsächlich kämpfen wir, weil es uns gefällt. Wenn es keinen Fußball gäbe, würden wir wegen etwas anderem kämpfen", sagt Oliveira. Wer dazugehören will, muss Freundschaften mit einem Hooligan schließen. Die sind jedoch verschlossen, um sich selbst zu schützen und sagen nicht jedem, wohin sie gehen oder mit wem. Ein Weg führt über die torcida. Wer sich dort öfter aufhält, lernt wer Hooligan ist und wer nicht. Wer akzeptiert wird, wird eines Tages mitgenommen. "Die Kämpfe sind heute 'professionalisiert', alles ist extrem organisiert, chronometrisch und funktional", sagt Oliveira. Eine Verabredung sei unnötig, jeder wisse, wo der "Feind" sich aufhält. Teils treffen sich die Hooligans um 6 Uhr, zehn Stunden vor dem Fußballspiel und bereiten eine Strategie vor, um in den "Krieg" zu ziehen. Aber nicht nur an Spieltagen fänden Kämpfe statt und auch nicht nur im oder um das Stadion. Oft passiere es kilometerweit entfernt, wenn Schläger aufeinandertreffen, sogar in Bars, Kinos oder Shoppings.

Bei größeren Kämpfen setzen die Hooligans von Corinthians auf eine spezielle Taktik. Wenn sie einer Gruppe von Gegnern gegenüberstehen, zählen sie laut bis drei und stürmen geschlossen auf sie los. "Das verursacht Angst beim Rivalen", sagt Oliveira. "Das machen wir auch, wenn wir mitten im Kampf sind und verlieren - wir gruppieren uns so neu und geben der Auseinandersetzung einen neuen Impuls." Es gibt keine Regeln, nichts hält die Schläger zurück: "Wer hinfällt, stirbt. " Manchmal geben sich die Männer gnädig und helfen einem Gegner auf die Beine oder lassen ihn laufen, das hängt vom Verhalten im vorigen Kampf ab, sagt Oliveira. Im Prinzip könne man aber "nach Belieben prügeln", deshalb flüchtet eine Seite sobald sich abzeichnet, dass sie verliert. Unter den Schlägern der Gaviões sind jedoch viele Bewohner aus den ärmeren Vororten von São Paulo. Sie sind an ein gefährliches Leben gewöhnt und "haben keine Zeit, Angst zu haben". Das hilft ihnen, auch in Unterzahl zu gewinnen.

Bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen kämpfen jedoch nicht alle Anwesenden. Nur das vordere Drittel, die in Muay Thai, Jiu Jitsu und MMA trainierte "Frontlinie", trifft körperlich auf den Gegner. Dahinter bleiben Unterstützer, die "oba oba", um ihre Kämpfer anzufeuern und den Rivalen durch Lautstärke Angst einzuflößen. Die "Frontlinie" entscheidet den Kampf, doch auch wenn die "oba oba" aus Furcht zu früh weglaufen, kann sich das Blatt schnell wenden.

Schlägereien von 2000 gegen 2000 Mann

Oliveira sieht die Auseinandersetzungen selbst fast wie einen Sport. "Ich trinke Bier mit meinen Rivalen, das ist kein Problem. Mit anderen feiere ich, manche sind meine Nachbarn oder wohnen im selben Viertel. Wir trennen die Dinge: Spieltag ist Spieltag, an normalen Tagen sind wir normale Leute." Aber nicht alle würden sich dann zurückhalten können und auch an anderen Orten in Schlägereien geraten. Wo auch immer die Hooligans sich zufällig treffen, kann es zu Kämpfen kommen. Die Polizei schafft es normalerweise nicht dazwischenzugehen und die Auseinandersetzungen zu beenden. Nur in der Nähe der Stadien sind genügend Kräfte vor Ort, um ihnen Einhalt zu gebieten.

Die torcidas organizadas hatten ursprünglich mehr Raum in den Stadien, doch seit Brasilien als Standort für die WM ausgesucht wurde, geht ihre Bedeutung durch zahlreiche Verbote von einzelnen Gruppen oder nur ihrer Fan-Trikots zurück. Oliveira sieht eine "Elitisierung" des Fußballs in Brasilien. Die Fangruppen würden von den Tribünen vertrieben, zum einen über hohe Eintrittspreise, aber auch durch einen "falschen" Kampf gegen die Gewalt, den die Regierung führt. Tatsächlich sei das Ziel, so die Fans aus niedrigeren sozialen Klassen zu verdrängen. "So bleibt Platz für die Elite, die die Spiele im Sitzen anschaut und Tore werden nur noch mit Applaus gefeiert." Bei den "Clássicos", den Spielen zwischen verfeindeten Clubs, müssen sich Verantwortliche der torcidas bei der Polizei treffen, um über Marschrouten zu sprechen. Nur so lassen sich Schlägereien von 2000 gegen 2000 Mann verhindern.

Der Eintritt für die WM-Spiele ist besonders teuer. Die Karten werden sich nur Touristen oder reiche Brasilianer leisten können. In den Stadien können sich die Besucher auch weitestgehend sicher fühlen. Das Sicherheitsaufgebot wird hoch sein, die Polizei wird die Umgebung absperren. Die wenigsten Hooligans werden es schaffen hineinzukommen, Gewalt im Stadion ist unwahrscheinlich. Uchida sieht als Grund hierfür auch die hohe Medienpräsenz. Jeder Gewalttäter findet sich auf Fotos oder im TV wieder. Das könne auch zu einem finanziellen Schaden für die torcidas resultieren, wenn sie für Straftaten ihrer Mitglieder belangt oder aus dem Stadion verbannt werden.

„Die brasilianischen Polizisten denken nicht zwei mal nach“

Außerhalb wird es aber zu Kämpfen kommen, da ist sich Oliveira sicher. Im Zentrum der Stadt, in Bars, Clubs, bei Veranstaltungen mit Großleinwänden, dort werde es gewalttätige Auseinandersetzungen geben. "Die brasilianischen Polizisten denken nicht zwei mal nach, bevor sie zuschlagen oder Gummigeschosse abfeuern", sagt Oliveira. "Bei der WM werden sie sich etwas zurückhalten, trotzdem ist es kein Vergleich zu der europäischen Polizei."

Viele brasilianische und internationale Problemfans sind bekannt und werden nicht in die Stadien oder überhaupt in das Land gelangen. "Die argentinischen Hooligans werden nicht nach Brasilien gelassen. Argentinien hat bereits eine Namensliste geschickt", sagt Oliveira. Allerdings ist die Grenze der zwei Länder groß und schwierig zu kontrollieren.

Motive eine Auseinandersetzung zu suchen, gibt es auf vielen Seiten. Die Brasilianer sind sauer auf die Engländer, weil diese während der WM 2006 in Deutschland eine brasilianische Flagge verbrannt haben. Hooligans aus Argentinien und England könnten den Streit um die Falklandinseln zum Anlass nehmen. In Videos auf Youtube gab es bereits derartige Aufforderungen. Aber auch brasilianische Problemfans ohne Vorgeschichte im Ausland freuen sich auf die Weltmeisterschaft. Gibt sie doch Gelegenheit, sich mit den aus ihrer Sicht berühmten europäischen Hooligans zu messen und möglicherweise in internationalen Medien zu erscheinen. "Für die Leute, die Auseinandersetzungen suchen, ist es ein Traum", sagt Uchida. Manche Brasilianer freuten sich auf das "große Vergnügen, mit den ausländischen Hooligans zu kämpfen, die sie sonst nur in Videos oder in den Nachrichten zu sehen bekommen."

* Name geändert