Der Gefoulte soll nicht selber schießen, mehr Ballbesitz bringt den Sieg. Sportwissenschaftler Daniel Memmert hat zahlreiche Studien ausgewertet, um den Wahrheitsgehalt der Fußball-Mythen zu prüfen.

Berlin. Um den Fußball ranken sich viele Mythen. Doch was ist wahr an Aussagen, wie der gefoulte Spieler sollte nie den Elfmeter selbst schießen oder die Heimmannschaft ist im Vorteil? Der Sportwissenschaftler Daniel Memmert, Leiter des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln, hat mehr als 300 verschiedene wissenschaftliche Studien ausgewertet. Sein Fazit: nicht alle Mythen stimmen.

DER GEFOULTE SOLLTE DEN ELFMETER NICHT SELBST SCHIESSEN: Als der Niederländer Arjen Robben in der Bundesliga-Saison 2011/2012 für den FC Bayern im Spitzenspiel bei Borussia Dortmund einen Elfmeter verschoss, bemerkte Franz Beckenbauer anschließend: „Es ist Gesetz, dass der Gefoulte nicht schießt. Aber vielleicht ist das Gesetz geändert worden oder noch nicht bis nach Holland vorgedrungen.“ Memmert widerspricht. Der 43-Jährige weist auf eine Studie hin, in der mehr als 800 Elfmeter aus vielen europäischen Ligen sowie nationalen wie internationalen Wettbewerben untersucht wurden. Das Ergebnis: Es macht keinen Unterschied, ob der Gefoulte oder ein anderer Spieler schießt. „Bei beiden liegt die Trefferquote ungefähr bei 73 Prozent“, sagt Memmert.

WER DAS LETZTE TOR IM SPIEL SCHIESST, GEWINNT DAS ELFMETERSCHIESSEN: Ein Beispiel für diese These ist das Finale der Champions League 2012 in München. Die Bayern führten lange Zeit 1:0, bis Didier Drogba in der 88. Minute der Ausgleich für den FC Chelsea gelang. Das Elfmeterschießen gewannen die Londoner und sicherten sich den Pokal. „Es ist wirklich so, dass 56 Prozent der Teams im Elfmeterschießen gewinnen, die einen Rückstand aufgeholt haben. Das wirkt sich stark auf das Selbstvertrauen aus“, meint Memmert, der sich auf eine Studie bezieht, die 407 Elfmeterschießen bei Welt- und Europameisterschaften, in Europapokal- und DFB-Pokalspielen sowie Afrika-Cup und Copa America analysierte.

ENGLÄNDER KÖNNEN KEINE ELFMETER SCHIESSEN: Deutsche Fußball-Fans denken gern an die erfolgreichen Elfmeterschießen gegen England im WM-Halbfinale 1990 oder dem Semifinale bei der EM 1996. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass englische Nationalspieler nur 68 Prozent ihrer Elfmeter verwandeln. „Engländer wenden zwischen dem Zurechtlegen des Balls und dem Anlauf dem Torwart häufig den Rücken zu.“ Das signalisiere kein großes Selbstvertrauen, so Memmert. „Außerdem versuchen die Engländer schnell zu schießen, nachdem der Schiedsrichter gepfiffen hat. Das ist eine Vermeidungshaltung: Sie wollen der stressigen Situation schnell entfliehen.“ Von sich überzeugte Profis würden sich mit der Ausführung mehr Zeit lassen.

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MEHR BALLBESITZ, MEHR GEWONNENE ZWEIKÄMPFE ODER HÖHERE LAUFLEISTUNG BRINGEN DEN SIEG: „Studien haben erwiesen, dass bei allen drei Faktoren kein Kausalzusammenhang besteht. Vor allem Analysen unter gemeinsamer Einbeziehung der Spiele aus der ersten italienischen, spanischen, deutschen, französischen und englischen Liga legen nahe, dass der Zusammenhang zwischen Ballbesitz und Spielausgang maßgeblich durch die besten Mannschaften einer Liga verursacht wird, wie München in Deutschland oder Barcelona in Spanien“, erläutert Memmert. Berücksichtige man demnach die Stärke der Teams, könne sich sogar ein leicht negativer Zusammenhang feststellen lassen. „Es geht also beim Ballbesitz vor allem um mehr Qualität als Quantität.“

DAS HEIMTEAM HAT EINEN VORTEIL: „Für Brasilien ist bei der WM der Heimvorteil noch stärker vorhanden. Generell nimmt die Bedeutung aber immer mehr ab“, betont Memmert. Mit den klimatischen Bedingungen würden die Brasilianer besser umgehen können als andere Nationen. „Das Publikum kann zudem mit seiner Lautstärke Einfluss auf Schiedsrichter-Entscheidungen nehmen.“ Negativ kann sich der Druck der Fans aufgrund der Erwartungshaltung auswirken. „In der Wissenschaft gibt es dafür den Begriff ’choking under pressure’, führt Memmert aus. Das bedeutet: Unter psychischen Druck lässt die Leistungsfähigkeit nach. Zur Person: Daniel Memmert ist Sportwissenschaftler an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er leitet dort das Institut für Kognitions- und Sportspielforschung. Er ist Herausgeber und Autor von Lehrbüchern zum modernen Fußballtraining.