Nach der Eskalation der Gewalt und dem Abbruch glaubt niemand mehr an eine 27. Auflage des Hallenfußballturniers im kommenden Jahr.

Hamburg. Sonnabend, 19.55 Uhr, Krochmannstraße. Eigentlich sollte in der Sporthalle Hamburg gerade der Turniersieger des 26. Internationalen Hamburger Hallenfußballturniers bejubelt werden, doch im Innern ist es so dunkel wie vor der Halle. 23 Autos verlieren sich auf dem Parkplatz, an den Kassenhäuschen kleben noch die Zettel mit den vier Preiskategorien, doch Karten gibt es an diesem Sonnabend keine mehr. Der Abpfiff war bereits 21 Stunden zuvor erfolgt, nachdem die Gewalt auf den Tribünen eskaliert war. Eine Kapitulation der Organisatoren vor den Krawallmachern , die mehr bedeuten dürfte als nur den Ausfall des finalen Spieltags. Das Turnier, eine Hamburger Institution, hat keine Zukunft mehr.

Äußerlich sind am Tag danach kaum mehr Spuren erkennbar. Die Absperrgitter, mit denen die rivalisierenden Fanlager vom VfB Lübeck und FC St. Pauli getrennt werden sollten, lehnen aufgereiht an der Backsteinwand. Allein die in Türrahmen eingesetzten Holzplatten geben Hinweise, dass einiges zu Bruch gegangen ist. "Die Idioten aus Lübeck haben alles zerstört", klagt ein Pfandsammler, der mit seiner Taschenlampe die Mülleimer ausleuchtet. Er habe alles beobachtet am Vorabend, habe gesehen, wie Menschenmassen ins Freie strömten, Verletzte schrien, Kinder weinten. "Eine Schande", sagt er, "alles war abgeriegelt, der Ring zwei gesperrt. Ich habe die Einsatzwagen der Polizei gezählt: Es waren 55, das muss man sich mal vorstellen. Die Lübecker haben drinnen angefangen, aber St. Pauli hat draußen weitergemacht. Auch Polizei und Stadt haben Fehler gemacht. Wenn man es nicht schafft, die Fans zu trennen, darf hier so etwas doch nicht stattfinden, oder?"

90 Verletzte, 74 Ingewahrsam- und zwei Festnahmen werfen die Frage nach Schuldigen auf. "Zu der Veranstaltung reisten 230 gewaltbereite St.-Pauli-Fans und rund 100 gewaltbereite Lübecker an. Beide Seiten waren von Anfang an hoch aggressiv", sagt Polizeisprecher Mirko Streiber. St.-Pauli-Fans hätten schon auf dem Weg zur Sporthalle pyrotechnische Gegenstände gezündet. Die Lübecker griffen beim Einlass das Sicherheitspersonal an. Gemeinsame Sache mit den Lübecker Randalierern machten 40 gewaltbereite Fans des HSV. "Szenekundige Beamte erkannten sie wieder", erklärt Polizeieinsatzleiter Robert Golz. Lübecker und HSVer, einige davon mit bundesweitem Stadionverbot belegt, sollen sich im Vorfeld zur gemeinsamen Aktion verabredet haben.

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Diese fand ihren Ausdruck zunächst in homophoben ("Schwule, Schwule") und rechtsradikalen Gesängen ("Deutsche, wehrt euch, geht nicht zu St. Pauli"), bevor es zum gezielten Angriff kam. "Zwei Personen sprangen sogar vier Meter tief in den St.-Pauli-Fanblock", sagt Organisationschef Wolfgang Engelmann. Die Polizei ging dazwischen, setzte Schlagstöcke und Pfefferspray ein. Die "heiße Phase" wie Golz später die Zeit zwischen 18.45 Uhr und 20.30 Uhr nennen wird, war eingeläutet. "Überall in der Halle gab es Gewaltausbrüche. Durch die vielen Umläufe, Ein- und Ausgänge war die Lage schwer zu kontrollieren", so Golz zum Vorgehen beider Fanlager. St. Paulis Anhänger stürmten zudem den VIP-Raum und verletzten Mitarbeiter.

Als die Lübecker gegen 20 Uhr unter Polizeibegleitung die Heimreise antreten sollten, versuchten sie, draußen auf die Abreisenden zu treffen. "Dabei griffen sie Beamte an und beschädigten mehrere Polizeifahrzeuge", erklärt Streiber. Insgesamt wurden 23 Strafanzeigen erstattet, St. Pauli will sich heute um 13 Uhr zu den Vorfällen äußern.

In der Kritik steht auch der Polizeieinsatz. Neben der Frage nach der Notwendigkeit des massiven Schlagstock- und Pfeffersprayeinsatzes wird darüber debattiert, warum die gewaltbereiten Lübecker und HSVer in der Halle nicht stärker bewacht wurden. "Für eine wirksame Einkesselung hätten wir die St.-Pauli-Fans unbeaufsichtigt lassen müssen, doch auch von ihnen ging ein Gefahrenpotenzial aus", sagt Golz, seit 2009 als Einsatzleiter für das Turnier zuständig: Man habe sich nichts vorzuwerfen. "Die Frage, warum so etwas passiert, muss an die gestellt werden, die Gewalt suchen. Nicht an die, die Gewalt verhindern wollen", findet auch Turnierschiedsrichter Patrick Ittrich, im Hauptberuf Polizeibeamter.

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Ebenfalls frei von Schuld sieht sich der Veranstalter. "In zwei Stunden sind hier 26 Jahre Arbeit kaputt getreten worden. Wir werden alle zivil- und strafrechtlichen Mittel ausschöpfen, um die Täter in Regress zu nehmen", sagt Peter Sander, einer der Geschäftsführer der Sport Peterson Event GmbH. Mit einer derartigen Klientel Fans sei nicht zu rechnen gewesen. "Weder die Polizei noch der VfB Lübeck lieferten uns bei den Sicherheitsbesprechungen Erkenntnisse in diese Richtung."

Der GmbH droht nun die Insolvenz. Allein der Schaden an der Halle wird auf mehrere Zehntausend Euro geschätzt, zudem sind Ausfallforderungen der Sponsoren möglich. Offen ist ebenfalls, wie viele Zuschauer ihr Eintrittsgeld für den zweiten Turniertag zurückfordern. Engelmann spricht von einem sportlichen wie wirtschaftlichen Desaster und hofft nun, dass "die Fans Mitleid mit unserer Lage haben und ihre Karten nicht zurückgeben. Ein Verzicht der Vereine FC St. Pauli und VfB Lübeck auf ihr Antrittsgeld würde uns einen großen Schritt weiterbringen."

Am Boden zerstört ist der Vater des Turniers, Horst Peterson, 76, der die Veranstaltung 1987 ins Leben rief. "Er ist maßlos enttäuscht von seinen Freunden, den St.-Pauli-Ultras", sagt Sander. "Sie haben dazu beigetragen, sein Turnier zu zerstören." Am Freitagabend, kurz bevor die Absage publik wurde, schleppte sich Peterson in gebückter Haltung an seinem Rollator durch die Gänge - zum letzten Mal.