Leistungseinbruch, Tabellenplatz 15: Anspruch und Wirklichkeit klaffen beim FC St. Pauli so weit auseinander wie seit Jahren nicht mehr.

Cottbus. Bereits zweimal hatte Markus Thorandt angesetzt, hatte Luft geholt und Sprechhaltung angenommen. Zweimal hatte er Körperspannung aufgebaut und die Arme gehoben, um die Antwort auf die Frage des Tages zu geben, womit die Leistung seines FC St. Pauli bei der soeben erlebten 0:2-Niederlage in Cottbus zu erklären sei. Doch der Innenverteidiger, gemeinhin Garant für klare, treffende Spielanalysen, scheiterte auch im dritten Versuch und brach ab: "Entschuldigt, aber ich habe keine Erklärung dafür."

Sprachlosigkeit und Achselzucken. Die Männer in den weißen Trikots auf der Suche nach Gründen für ihre peinliche Darbietung, die sportlich wie emotional den vorläufigen Tiefpunkt der Ära Schubert markiert. "Wir waren nicht giftig genug, haben viel zu viele Fehler gemacht", wusste Florian Bruns. "Viel zu wenig. Von uns allen" hatte Thorandt gesehen. "Wir waren nicht bissig, nicht aggressiv, hätten deutlich höher verlieren können. Jeder hat nur seine Sache gemacht", fand Florian Mohr. Erstmals an diesem Tag präsentierten sich die Hamburger als homogene Gemeinschaft: einheitlich im Schockzustand. Die Fragen nach dem Warum und Weshalb aber blieben offen.

Auch der Trainer benötigte eine Nacht und zwei Nachbetrachtungen der 90 Minuten am Bildschirm, um dem Rätsel mit Lösungsansätzen begegnen zu können. Nahezu die gesamte zweite Hälfte hatte André Schubert an der Grenze seiner Coaching-Zone verharrt. Erschrocken, hilflos, schockiert. "Nicht nur die Fans, auch wir haben gelitten. Es war ein schlechtes Spiel in allen Bereichen, aber richtig erschreckend war die Art und Weise. Wir haben völlig die Ordnung verloren, und das war bislang nie ein Problem bei meinen Mannschaften. Das ist neu", so der Glatzkopf, der gleich mehrfach beim Versuch, sich die Haare zu raufen, scheiterte. 1:11 Torchancen und 6:18 Torschüsse: Seine Mannschaft ließ sich demontieren und hatte am Ende noch großes Glück, nicht mit 0:6 vernichtet worden zu sein. Defensiv planlos, offensiv harmlos! Bis zum ersten Eckball vergingen 64 Minuten. Seine Spieler schienen sich eine gemeinschaftliche Auszeit genommen zu haben und beim Aufzeigen der Mängel gegenseitig überbieten zu wollen. Mit Ausnahme von Fabian Boll bewarben sich gleich zehn Akteure nahezu im Minutentakt um eine Herausnahme.

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Das Problem: Schubert durfte auch Sonnabend nur dreimal tauschen, und selbst wenn es angesichts der herausragend schlechten Leistung, dieses kollektiven Verzichts auf die grundlegenden Voraussetzungen für erfolgreiches Fußballspielen, eine Ausnahmeregelung gegeben hätte, wären dem Trainer die Hände gebunden gewesen. Fünf Feldspieler verloren sich auf der Reservebank. Neben den Rekonvaleszenten Sören Gonther und Kevin Schindler, der am Dienstag (mal wieder) ins Mannschaftstraining zurückkehren soll, fällt auch Lennart Thy für mindestens einen Monat aus, während bei Akaki Gogia ein Muskelfaserriss im Hüftbereich samt drei bis vier Wochen Pause diagnostiziert wurde. Es gibt zu wenige Alternativen, um auf den in der Lausitz geleisteten Offenbarungseid personell angemessen reagieren zu können.

Und so hofft Schubert auf mindestens einen weiteren Neuzugang und versucht, die nach seinem nächtlichen Videostudium bis zwei Uhr erkannten Kernprobleme - mangelnde Ordnung, Passivität und zu wenig Torgefahr aus dem Mittelfeld - in dieser Woche im Trainingsbetrieb anzugehen. "Wir werden jetzt wieder an Basics wie dem Zweikampfverhalten arbeiten", sagt der 41-Jährige, der äußerlich ruhig und gelassen bleibt und sich als sachlicher Analyst präsentiert. Auch seine Systemumstellung auf ein 4-4-2, die bis in die Nachwuchsmannschaften wirkt, steht auf dem Prüfstand. "Wir müssen uns Gedanken machen, ob wir da etwas korrigieren", erwägt er eine Vereinfachung im Spielaufbau, der zuletzt vermehrt über die Außenpositionen vorgetragen werden sollte. "Vielleicht haben die Jungs zu viele Dinge im Kopf, denken zu viel über die Vorgaben nach."

Dass der Erfolg keine Frage des Systems, sondern der Interpretation ist, bewies am Wochenende der Gegner. Während Fin Bartels und Florian Bruns auf den offensiven Außen verendeten, wirbelten die Cottbuser Farina und Adlung die Hamburger Hintermannschaft durcheinander. Ballverlusten begegneten die Brandenburger mit effizientem Pressing und ständigem Doppeln des Gegners. "Cottbus hat es so gespielt, wie wir es spielen wollten", brachte es Bruns treffend auf den Punkt. Die schonungslose Selbstkritik war das einzig Positive an diesem Tag, der mit dem undankbaren Pokallos, auswärts beim VfB Stuttgart, passend endete.

Nach dem Spiel des 1. FC Köln heute in Aue wird St. Pauli auf Platz 15 der Tabelle geführt werden. Angesichts der neuen Aufstiegsambitionen des Präsidiums hat sich die Situation bereits nach drei Partien zugespitzt. "Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander", weiß nicht nur Bruns, "wir haben eine gute Truppe beisammen, aber wir müssen jetzt zeigen, dass wir es besser können, die Ärmel hochkrempeln und uns den Arsch aufreißen. Sonst werden das ganz harte Wochen." Nach verpatztem Start muss am Sonnabend der erste Sieg her, will man den Kontakt nicht schon früh verlieren. Im Anschluss an eine zweiwöchige Spielpause folgen Auswärtsaufgaben in Köln und Frankfurt. "Zwei Punkte sind absolut zu wenig. Wir stehen schon unter Druck, müssen jetzt gegen Sandhausen gewinnen", so Schubert, der wissen wird, dass diese Vorgabe nicht nur für die Spieler gilt.