Der Teilausschluss von Zuschauern auf den Stehplätzen gilt für das nächste Heimspiel des FC St. Pauli am 12. März gegen den Karlsruher SC.

Frankfurt (Main). "Und dann sah ich, dass sie sich nicht entrollte. Ich habe zur Seite geschaut und die Hände vors Gesicht geschlagen. Als ich wieder aufs Spielfeld blickte, lag Pirmin Schwegler am Boden." Die Stimme von Martin R. zittert, Tränen laufen ihm über die Wangen. Freiwillig ist er am Montag in den Sepp-Herberger-Saal der Frankfurter DFB-Zentrale gekommen und schildert die Geschehnisse des Abends vom 19. Dezember 2011, als beim Ligaspiel zwischen dem FC St. Pauli und Frankfurt (2:0) Eintrachts Mannschaftskapitän Schwegler in der 48. Minute von einer Kassenbonrolle am Kopf getroffen wurde und zu Boden sank. Geworfen worden war sie von den Stehplatzrängen der Südtribüne - aus der Hand des Abiturienten Martin R.

Gestern war der bislang aufregendste Tag im Leben des 20-Jährigen. Als Zeuge sitzt er vor dem DFB-Sportgericht, das nach 150-minütiger Verhandlung und Beratung die Konsequenzen des Wurfs bekannt gibt: "Der FC St. Pauli wird wegen mangelnden Schutzes des Gegners verurteilt, die Stehplatzblöcke A,B, C, G und H beim nächstmöglichen Heimspiel zu schließen. Das Urteil bleibt deutlich hinter dem Antrag des Kontrollausschusses", lautet der Urteilsspruch des Vorsitzenden Richters Hans E. Lorenz. "St. Pauli ist zwar mehrfach einschlägig in Erscheinung getreten, aber der Wurf war nicht als Wurf gegen den Gegner gedacht. Es war eine Fahrlässigkeitstat." Als weiteren Unterschied benennt Lorenz "das vorbildliche Nachtat-Verhalten", da sich der Täter zu seiner Verantwortung bekannt habe. 5800 Fans auf Nord- und Südtribüne sind von der Aussperrung betroffen, den zu erwartenden finanziellen Verlust beziffert das Sportgericht auf 63 000 Euro. Die Strafe gilt für das nächste Heimspiel am 12. März gegen Karlsruhe , sollte St. Pauli gegen das Urteil binnen der nächsten sieben Tage keine Rechtsmittel einlegen und vor das Bundessportgericht ziehen. Bis zuletzt hatte der DFB-Kontrollausschuss den Ausschluss sämtlicher Stehplatzbesucher gefordert. 13 000 Zuschauer hätten draußen bleiben müssen, die Mindereinnahme für den Klub insgesamt an die 200 000 Euro betragen.

+++ Trainer Schubert fordert Stürmer zu mehr Laufarbeit auf +++

Martin R. kennt den Sachverhalt und die möglichen Folge, als er den Saal um 14 Uhr betritt. Im Herbst will er sein Pädagogikstudium beginnen, anschließend als Sport-, Mathe und Biologielehrer verbeamtet werden. Der Verein behält sich vor, die entgangenen Gelder auf ihn, den Täter, umzulegen. Und dann ist da noch der sportliche Aspekt. Als Mitglied und Saisonkartenbesitzer weiß Martin R., dass fehlende Atmosphäre Punkte und somit den Aufstieg in die Bundesliga kosten könnte.

Belastende Gedanken, wie Körperhaltung und Stimme verraten. "Es ist das erste Mal, dass der Sünder hier vor Gericht persönlich aufschlägt, aber das werten wir als positives Zeichen", sagt Lorenz zu Beginn der Verhandlung. Direkt neben St. Paulis Vizepräsidenten Gernot Stenger hat der braunhaarige Schlaks aus dem Hamburger Umland in gebückter Haltung Platz genommen, seine Hände sind zwischen den Oberschenkeln vergraben, die weißen Sneaker rutschen ungeduldig über den Parkettboden. Sportchef Helmut Schulte sitzt zwei Stühle weiter, die Schwester von Markus R. wartet im Foyer.

+++ Kommentar von Peter Wenig: Zu sehr vorbelastet +++

Doch bevor R. zu seiner Aussage kommt, sind andere dran. Stenger macht den Anfang. Wie Schulte sitzt er im selben Anzug und derselben Krawatte wie bei der mündlichen Verhandlung der Hamburger am 14. April 2011 auf der Anklagebank. Richter, Ankläger und Vereinsvertreter - sogar die Personen sind dieselben wie bei der Anhörung nach dem Spielabbruch gegen Schalke in Folge eines Bierbecherwurfs. "Auch damals war die Tat klar und unstrittig, auch damals war klar, dass wir für die Strafe geradestehen müssen", zieht der Vizepräsident weitere Parallelen, "aber wir sind hier angereist, um die Andersartigkeit dieses Falls darzustellen. Heute geht es nicht um Rowdytum. Dieser Wurf war eine Dummheit, aber kein Vorsatz. Der Fall hat eine andere Beurteilung verdient", sagte der Rechtsanwalt, der für eine Geldstrafe plädiert.

Dann ist R. an der Reihe. Er berichtet, wie er die vor Lorenz auf dem Tisch liegende Rolle vor dem Spiel vom Nebenmann auf der Tribüne erhielt, dass er sie in die Jackentasche gesteckt und sich erst in der Halbzeitpause wieder an sie erinnert habe. Dass er, der noch nie eine Rolle geworfen habe, sie möglichst senkrecht schleuderte und zuvor den Tesafilmstreifen entfernt habe, damit sie sich abrolle und in den Grenzen des Fanblocks verbleibe. Dass er nach seinem Treffer an den Bierbecherwurf gedacht habe und die Folgen, die nun auf ihn zukämen. Kaum geschlafen habe er in der folgenden Nacht. "Ich konnte nicht damit leben, mit diesem Lügengebilde und Weglaufverhalten davonzukommen. Ich habe es dann meinem Vater erzählt, der konnte es schon kaum glauben. Und dann meiner Mutter. Sie kennen meine Mutter nicht ... Aber die Tat ist geschehen, und ich stehe zu meiner Verantwortung."

An seiner Glaubwürdigkeit zweifelte keiner im Saal. "Er hat uns alle berührt", resümiert Lorenz, doch das jüngste Vorstrafenregister des Klubs habe eine Geldstrafe unmöglich gemacht. Und Martin R. drohen nun Konsequenzen in Form eines Strafverfahrens. Immerhin dürfte der Regressanspruch des Klubs in einem mehrmonatigen Praktikum bis Studienbeginn symbolisch abgegolten werden.