Mutigerer Fußball, neues System, moderne Videoanalysen in der Halbzeit - beim Zweitligaklub FC St. Pauli wird alles anders.

Abendblatt: Herr Stanislawski, 2:0 gegen Hearts of Midlothian, 1:1 gegen Mainz 05, 3:1 gegen Stoke City. Ihre Mannschaft scheint in Form zu sein.

Holger Stanislawski: Das stimmt, Ich bin sehr zufrieden. Wir spielen Fußball.

Abendblatt: Ist es Ihr primäres Ziel, die Fußballkultur zu verbessern?

Stanislawski: Ja. Wir wollen weniger lange, hohe Bälle spielen, immer weniger Ballkontakte brauchen und schneller Fußball spielen. Meine Philosophie ist, mutig, aktiv und offensiv zu spielen. Die Pflicht haben wir in den letzten Jahren erarbeitet, jetzt kommt die Kür.

Abendblatt: Sie gehörten zu der St.-Pauli-Generation, die sich durch besonderen Kampf, dafür aber mit fußballerischen Mängeln einen Namen machte. Jetzt scheinen Sie gerade diesen Mythos abzuschaffen.

Stanislawski: Wenn das durch Qualitätsfußball geschieht, dann ja. Und dann mache ich das sogar gern. Wir haben eine gewisse Vorstellung von gutem Fußball und versuchen weiterhin, unser Spiel zu perfektionieren. Wir wollen kein Außenseiter mehr sein müssen, sondern jedes Spiel mit dem Gedanken angehen, es gewinnen zu können. Und genau da sind wir jetzt angekommen.

Abendblatt: Also ist der Aufstieg ein realistisches Ziel?

Stanislawski: So weit gehe ich nicht. Aber wir wollen uns immer erkennbar, aber schrittweise weiterentwickeln. Unser Ziel sind 102 Punkte (lacht). Und da sind wir auf einem sichtbar guten Weg. Weil wir anfangen können, Dinge zu perfektionieren.

Abendblatt: Inwieweit hat Ihnen der Trainerlehrgang in der vergangenen Saison geholfen?

Stanislawski: So ärgerlich es war, dadurch nicht regelmäßig bei der Mannschaft zu sein, er hat mich als Trainer und als Mensch weitergebracht. Ich bin reifer geworden, habe eine Menge Input bekommen. Ich höre eh gern zu und reflektiere anschließend - und da gab es beim Lehrgang sehr viel mitzunehmen.

Abendblatt: Auch das "starke Zentrum", das Sie diese Serie bevorzugt spielen wollen?

Stanislawski: Nein, das ergab sich schon zu Regionalliga-Zeiten bei der B-Lizenz unter HFV-Trainer Uwe Jahn. Aus einem Gespräch heraus habe ich dieses System, das auf zwei offensiven Mittelfeldspielern und zwei defensiv mitarbeitenden Stürmern basiert, kreiert. Jetzt haben wir auch die richtigen Spieler dafür.

Abendblatt: Das heißt, es geht offensiv in die neue Saison?

Stanislawski: Nicht zwingend. Wir wollen attraktiv nach vorne spielen, in der Offensive darf Kreativität gelebt werden. Aber wir müssen uns auch variabel aufstellen können. Dafür sind wir auf jeder Position doppelt gut besetzt und haben für alle Systeme die richtigen Spieler. Das ist für mich die vorwiegende Erkenntnis der bisherigen Testspiele. Wir sind dieses Jahr wirklich sehr gut aufgestellt. Aber das beinhaltet eben auch, dass Spieler mal draußen bleiben müssen, nur weil das System es verlangt.

Abendblatt: Auffällig neben den üblichen harten Laufeinheiten ist in diesem Trainingslager Ihr Taktiktraining.

Stanislawski: Die Spieler sollen automatisieren. Sie sollen Abläufe verinnerlichen und auf ein abgesprochenes Signal hin sofort umsetzen können.

Abendblatt: Gibt es dazu einen schriftlichen Wegweiser, wie es bei Footballteams mit dem sogenannten Playbook Usus ist?

Stanislawski: Ja. Das führen wir dieses Jahr ein. Jeder Spieler erhält ein Mäppchen mit den Spielzügen und den Zeichen. Wie gesagt, wir sind diese Saison bei der Kür und versuchen, alle Abläufe zu perfektionieren. Auch die im Umfeld der Mannschaft.

Abendblatt: Was meinen Sie damit genau?

Stanislawski: Wir wissen, dass wir uns noch in allen Bereichen weiterentwickeln müssen. Das gilt für die Mannschaft, für unser Trainerteam wie für die Infrastruktur des Vereins. Als Beispiel: Der 1. FC Köln hat Studenten, die alle Szenen der Spieler während der Spiele auswerten und die sich der Spieler auf einem portablen Monitor schon in der Halbzeit ansehen kann. Davon sind wir - auch aus wirtschaftlichen Gründen - noch weit entfernt. Aber es sollte unser Ziel sein, irgendwann ähnlich aufgestellt zu sein.

Abendblatt: Womit müssen Sie in allernächster Zeit anfangen?

Stanislawski: Das ist schwer zu sagen. Aber auf jeden Fall müssen wir unser Scouting möglichst schnell ausbauen. Es darf nicht alles auf Stefan Studers Schultern lasten, so gut er auch arbeitet. Auch ein Klub wie der FC St. Pauli muss die Zeichen der Zeit erkennen und mitziehen.

Abendblatt: Müssen Sie dann nicht den Trainerstab aufstocken?

Stanislawski: Doch, aber noch nicht diese Saison. Das ist aber für die Saison 2010/2011 ein wichtiges Thema.

Abendblatt: Ein vergrößerter Trainerstab, Monitore in der Halbzeit und ästhetisch vorgetragener Fußball - ist das Ende des Mythos vom armen und "etwas anderen Klub" absehbar?

Stanislawski: Nein, wir werden immer der nahbare Klub sein, der wir seit Ewigkeiten sind. Ich glaube, es gibt kein Profiteam außer uns, das eine Stadtteilbegehung macht und so nah an die Fans herangeht.

Abendblatt: Sie haben sich vor einem Jahr gegen den Job als sportlicher Leiter und ausschließlich für das Traineramt bei St. Pauli entschieden. Was passiert, wenn Sie Ihre Ziele nicht erreichen?

Stanislawski: Das, was in jedem Verein passiert: Der Trainer, also ich, wird diskutiert. Ich wusste auch bei meiner Vertragsunterschrift als Trainer, dass das mein Aus beim FC St. Pauli ist.

Abendblatt: Könnten Sie sich überhaupt vorstellen, nach 16 Jahren erstmals den Verein zu wechseln?

Stanislawski: Darauf zu setzen, beim FC St. Pauli noch 20 Jahre Trainer sein zu können, wäre naiv. So schön romantisch die Vorstellung auch ist, ich werde sicher nicht nur den FC trainieren.

Abendblatt: Auch weil Sie um Titel spielen wollen?

Stanislawski: Ja. Jeder ambitionierte Trainer träumt davon, die A-Nationalmannschaft zu trainieren, deutscher Meister zu werden, den Pokal zu gewinnen. Auch ich. Aber bis dahin habe ich hier noch viel Arbeit zu erledigen.

Interview: Marcus Scholz

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